Barbara Uffer
Graubünden, August 1886. Barbara, genannt Baba, ist dreizehn und arbeitet als Küchenmädchen im Savogniner Hotel Pianta, als Giovanni Segantini dort für einige Monate einzieht.
Diese Geschichte könnte wie folgt weitergehen: Der damals schon bekannte Schweizer Maler nimmt sich das Mädchen zur Geliebten. Zerstört seine Ehe. Schwängert Barbara. Das Kind kommt ins Heim, und alle haben es elend.
Doch das geschieht nicht. Stattdessen wird Baba das Kindermädchen für Gottardo, Alberto, Mario und die kleine Bianca Segantini. Sie versteht sich offenbar hervorragend mit Giovannis Frau Bice, folgt ihnen, wenn sie umziehen, und sitzt dem Maler regelmäßig Modell. Ganz ohne Liebesbeziehung und Skandal.
Beim Modellsitzen ging es dem Maler nicht so sehr um Baba Uffer als Individuum, sondern um ein Mädchen aus der Gegend als archetypische, bodenständige Figur in der Berglandschaft. Einmal lehnt sie, auf dem Boden sitzend, am Zaun und liest, Schafe trödeln um sie herum. Ein anderes Mal steht sie am Brunnen und trinkt vom frischen Wasser. Man hört es geradezu plätschern.
Es gibt ein Schwarz-Weiß-Foto der Familie am Esstisch. Gemütlich sieht es aus in dem getäfelten Raum. Ob es Segantinis eigene Bilder an der Wand sind? Wenn man es nicht wüsste, würde nichts auf die ärmlichen Verhältnisse hindeuten, in denen sie viele Jahre gelebt haben. Vielleicht war es eines der besseren Jahre.
Der Herr des Hauses schaut mit dunklen Augen aufmerksam in die Kamera. Drei seiner Kinder haben noch die Serviette im Kragen stecken, damit ihre Kleider nicht schmutzig werden. Baba Uffer ist die einzige, die steht, schwarz gekleidet, den Mund leicht geöffnet und, wie es aussieht, mit roten Wangen. Die Arme hat sie auf die Stuhllehnen der Kinder gelegt.
Auch nach Segantinis Tod bleibt sie der Familie treu. Selbst nachdem sie mit 33 den Witwer Tsasper Spinatsch geheiratet und Kinder bekommen hat, kehrt sie jedes Jahr zurück, um dem Maler einen Blumenstrauß aufs Grab zu legen. Bice Segantini wiederum nimmt an Babas Beerdigung teil, als sie 1935 an Krebs stirbt.
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Dieser Blogbeitrag erschien zuerst auf Frauenleben.