9. April 2018

Die Frau mit dem fremden Namen – Otti Binswanger-Lilienthal

Neuseeland? Das ist doch dieses Traumurlaubsziel am anderen Ende der Welt, wo die Hobbits leben und nachts die Kiwis durchs Unterholz zotteln?

Für Otti Binswanger-Lilienthal war es alles andere als ein Traum, nach Neuseeland auszuwandern – es war pure Notwendigkeit und dann doch ein großes Glück.

Denn sie und ihr Mann Dr. Paul Binswanger überlebten dort den Zweiten Weltkrieg. Paul war Literaturwissenschaftler und Jude und entschied sich 1933, ins Exil zu gehen. Die nächsten Jahre verbrachte das Ehepaar in Italien, bis auch dort die Gefahr konkreter wurde. Durch Ottis Verwandtschaft bekamen sie zwei Einreisevisa und siedelten sich in Christchurch auf der Südinsel an. Die neuseeländische Immigrationspolitik war so streng, gewissermaßen so gnadenlos, dass das Land während des Zweiten Weltkriegs insgesamt nur etwa neunhundert Personen aufnahm.

Otti und Paul wollten dankbar sein, doch die Neuseeländer in ihrem kolonial geprägten, starren Traditionsbewusstsein machten es ihnen nicht leicht. Dazu kam die Schuld, die sie empfanden, den Rest ihrer Familien und zahlreiche Freunde in Europa gelassen zu haben.

The destruction of all that she had cherished, the loss of her people, her friends, is a pain she has been used to for a long time. But the broken hope of all who have not been rescued, of all the trapped ones, who had waited in vain for visas and permits – and now the whole monstrous vision of war. The flood of emotions and memories becomes so strong that she nearly loses her balance, and she leans heavily against the wooden wall behind her. (Country, S. 53)

Eine ungewöhnlich reiche Kindheit

Otti wurde 1896 geboren und war die Tochter des Architekten und Flugpioniers Gustav Lilienthal, Bruder von Otto Lilienthal.

Er verfocht die Idee der Bodenreform, einer gerechten Verteilung von Grund und Boden. Er focht noch für vieles mehr, er gründete, er erfand, dieser  hochgewachsene, starke, unruhige, heftige, zärtliche Vater. Ich bin sein jüngstes Kind, seine fünfte Tochter. Gemeinsam mit meiner zartnervigen, musischen, begabten Mutter erbaute er diese kleine Burg. Sie erzogen uns im Bewusstsein ihres Außenseitertums und schenkten uns eine ungewöhnlich reiche Kindheit. (Albatros, S. 9)

Das schreibt Otti in ihrer Autobiografie Der Albatros, die in den Sechzigerjahren entstand und 2011 von Metropol neu veröffentlicht wurde. Die guten Erfahrungen aus diesen jungen Jahren hätten sie ihr Leben lang gestärkt, „ich konnte zurückgreifen auf den großen Schatz meiner Kindheit, konnte untertauchen im Licht einer Vergangenheit […]. Sie ist das große, unerschöpfliche Kapitel, von dem ich zehrte“ (Albatros, S. 157).

Schon der Erste Weltkrieg, den sie in Berlin verbrachte, hatte Otti auf eine harte Probe gestellt. Während alle um sie herum der großen Kriegsbegeisterung verfielen, fragte Otti sich von Anfang an, wie man so viel Leid in Kauf nehmen und sogar bejubeln konnte. Es dauerte eine Weile, bis sie in der Berufswelt Fuß fassen konnte, sie versuchte sich als Sozialarbeiterin und Gymnastiklehrerin. Ende der Zwanzigerjahre lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen. Schon nach wenigen gemeinsamen Jahren mussten sie fliehen. Mehr als sie selbst, schreibt Otti in Der Albatros, habe es ihren Mann getroffen, den Literatur- und Sprachwissenschaftler, dem das Lesen und Schreiben alles gewesen sei. Er versuchte, in Neuseeland und nach dem Krieg in Italien und England Fuß zu fassen und weiter an Universitäten zu lehren, doch den Verlust seiner Muttersprache habe er niemals verwunden – „die Tragödie seines Lebens“ (Albatros, S. 135). Ein Zurückkehren nach Deutschland sei jedoch niemals in Frage gekommen. Sie selbst sei immer ein pragmatischer Mensch gewesen, der versucht habe, überall zurechtzukommen.

Wohin gehöre ich denn? Eigentlich nirgendwohin. Und dies ist kein bedauernswerter Zustand. Ich muss den Ort, an dem ich stehe, mit eigener Kraft und eigenem Wissen erfüllen, muss mir selbst den Platz bestätigen, von Stunde zu Stunde, damit er zur Heimat und zu Welt werden kann. (Albatros, S. 188)

„And How Do You Like This Country?“

Diese Frage bekam Otti in Neuseeland offensichtlich so häufig gestellt, dass sie sie zum Titel ihrer Kurzgeschichtensammlung machte. Diese acht Geschichten wurden 1945 zum ersten Mal veröffentlicht und sind heute in der Reihe Germanica Pacifica im Peter-Lang-Verlag erhältlich. Verblüffend und beeindruckend ist dabei, dass sie auf Englisch geschrieben sind, was Otti sich schnell und gründlich angeeignet haben muss. Literarisch sind sie nicht mehr als solide, aber die Einblicke, die man darüber in ihr Leben auf der Insel bekommt, sind wirklich interessant – gerade im Zusammenhang mit ihrer Autobiografie gelesen.

In der Geschichte „Forgotten“ beschreibt sie ausführlich, wie eine namenlose Frau in einer Nervenheilanstalt vor sich hin vegetiert: „People are quite kind; but they do not know how to help. Soon she will escape into a still deeper darkness where no effort will be made any more by her tired confused mind“ (Country, S. 20/21). In Der Albatros schildert sie unterdessen, wie sie in Christchurch als Gymnastiklehrerin gern in der fast sarkastisch benannten Irrenanstalt „Sunnyside“ geholfen hätte, um den Stupor vieler dort quasi eingesperrten Patientinnen zu lösen.

Aber hier erkennt man die ungeschminkte Härte des Kolonialvolkes: Die Pioniere lehnten die Erschütterungen der Seele und der Nerven an. Sie betrachteten sie als Sünde. Niemals wird in den Familien erwähnt, wenn jemand „is put away“ (fortgetan ist), dorthin, woher es kaum eine Wiederkehr gibt. Der Weg zum endgültigen Eintritt ist schneller und einfacher als in Deutschland. Erschreckend einfach. (Albatros, S. 144/45)

Dort gelandet sind wohl auch einige junge Frauen, die unverheiratet schwanger waren. Wenn sie sich nicht für eine Abtreibung entschieden, wurden sie oft dazu gedrängt, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Mehr Glück hat zumindest Protagonistin Phyllis in der Geschichte „Life Can Be So Simple“, die bei einer ihr wohlgesinnten Dame landet. „Nice things still seem to happen in this wicked world“, denkt sich die Oberin, als Phyllis die Entbindungsstation verlässt (Country, S. 46).

Amseln und Würmer

In der Geschichte „So Green Was My Playground“ spricht Otti das Erziehungssystem in Neuseeland an, mit dem die nächste puritanische Generation herangezüchtet wird: Der kleine, unsportliche David sitzt am Fenster und beobachtet träumerisch die Amseln, die Würmer aus der Erde ziehen.

His parents did not take much notice of the boy’s real life; they were more concerned with the David whom they imagined some day in the future […]. For the David of the secure future they were willing to spend considerable money. (Country, S. 27)

Wenige Seiten und Jahre später haben seine Eltern ihn ins Internat geschickt, er trägt Schuluniform, wird für jedes Vergehen entsprechend diszipliniert, sieht aus wie alle anderen, verhält sich wie alle anderen und hat vor lauter Langeweile und fehlender Individualität keine Zeit mehr, über Amseln und Würmer nachzudenken.

David will soon enter his father’s business without doubt or hesitation. He will seek the company of his former school-mates and join all possible sports clubs. […] but because David does not imagine very much at all he is never worried about things which do not concern football or cricket. Of course, he will some day meet a nice girl and will marry her and be happy. (Country, S. 31)

In Der Albatros zeigt Otti sich entsetzt über die körperlichen Züchtigungen an den neuseeländischen Schulen, die ein „Eingeständnis pädagogischer Unzulänglichkeiten und Fantasielosigkeit“ seien:

Die Kinder wurden auf die Hände geschlagen, die Jungen bekamen Schläge mit dem Rohrstock. Beim Direktor anstellen zur Exekution. Der Junge legt sich über den Stuhl, der Direktor drischt und zählt und schreibt die ausgeteilten Hiebe in ein Buch hinein. Der Junge richtet sich auf und sagt „thank you, Sir“. Ich hätte meine Jungen angehalten, den Direktor in den Bauch zu boxen, und hätte ihnen hierfür den nötigen Unterricht erteilen lassen. (Albatros, S. 133)

„What a gift in war time“

Neben diesen allgemeinen sozialen Betrachtungen handeln die Geschichten aber auch von persönlicheren Erfahrungen. Otti und Paul hatten übrigens keine eigenen Kinder, doch während ihrer Zeit in Italien kümmerten sie sich um eine ganze Reihe von Kindern deutscher Bekannter, die diese in Sicherheit wissen wollten. Auch diese Schutzbefohlenen mussten sie in Europa zurücklassen, doch nach dem Krieg erfuhr Otti, dass sie glücklicherweise alle überlebt hatten.

Während Otti und Paul, die beiden Fremden, in Neuseeland zwar schon von Anfang an zurückhaltend beäugt wurden, so wurde die Ablehnung doch noch schlimmer, als schließlich der Krieg erklärt wurde und sie plötzlich als Enemy Aliens galten. Dazu passt die rührende Geschichte „Turnips“, in der ein ausländisches Ehepaar von allen Seiten misstrauisch beobachtet wird: Das sind doch bestimmt Spione … Wir sind im Krieg, wir brauchen hier keine Ausländer … Am besten sollten wir sie einsperren … Doch schließlich gewinnt die Menschlichkeit.

From the other side of the fence [the woman with the foreign name] hears careful slow footsteps approaching, and after a moment, one after another, three heavy objects fall, with a funny thud, over the fence among the bed of daffodils. (Country, S. 53/54)

Die barmherzigen Nachbarn schenken ihnen Steckrüben! „What a gift in war time, and what a symbol!“, denkt die verblüffte Frau sich. „She cannot help smiling.“ (Country, S. 54) Was sie ihren Nachbarn nicht verraten wird, ist, dass sie ihr Leben lang keine einzige Steckrübe mehr essen kann, nachdem es im Ersten Weltkrieg in Berlin monatelang nichts gab als diese verhassten Dinger. Sie stellt sie auf die Veranda und tätschelt sie oft, wenn sie dort vorbeigeht.

The Immigrant

Das Gemälde auf dem Titelbild der Autobiografie zeigt übrigens Otti, wurde 1945 von dem Neuseeländer Douglas K. MacDiarmid gemalt und heißt The Immigrant oder The Refugee. Das intensive Rot, die verschränkten Arme und der Mantel, den sie drinnen trägt, zeigen wohl, dass Otti sich von der Farblosigkeit des sozialen Lebens in Neuseeland nicht hat unterkriegen lassen.

Auch dass die Landschaft sie nicht unbeeindruckt gelassen hat, zeigt der Anfang von „A Summer Evening“:

Twilight has settled […]. The room became restful for once, only the red and yellow summer flowers in the huge bowl still retained their radiant glow in the vanishing light. Outside the French windows, the lawn in its deep green velvet seems to maintain its own gleam even after the sun has set at the end of the brilliant day. Beyond the dark outdrawn line of the surrounding hedge the landscape also is still alight. The hillocks further away, covered with grey-brown tussock, assume greater emphasis, all in giving up their earthly weight, for the spreading shadows change at this hour the monotonous plain into a semi-dark sea in which everything floats uncertainly. Like mighty apparitions towering in the far distance, high purple mountains screen the horizon, their tops husbanding a shining rosy hue against the fluid turquoise-coloured sky. (Country, S. 33)

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Otti Binswanger-Lilienthal: Der Albatros. Ein Weg durch die Zeit, Metropol 2011.
Otti Binswanger: „And How Do You Like This Country?“ – Stories of New Zealand, Peter Lang 2010.

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Bildquelle: Der Albatros.

Danke an Alice, die mich auf Otti Binswanger-Lilienthal aufmerksam gemacht hat!