29. November 2016

Der Fremde

Es war still geworden. Seit Tagen fielen keine Bomben mehr, und nun war auch das hastige Feuer der Gewehre verstummt. Ich ging zum Fluss hinunter, stellte mich in ein schlammiges Rinnsal und versuchte, meine Füße vom Dreck zu befreien. Der Schlick quoll mir zwischen den Zehen hervor und überzog sie nur mit einer weiteren Schicht von mattem Grau.

Die ganze Stadt lauschte vorsichtig auf das Gluckern des Flusses, die keuchenden Sonnenstrahlen und das Rumoren der leeren Bäuche. All das war wieder zu hören, aber noch glaubte niemand daran. Zwischen den knöchernen Überresten der Häuser heulte nachts der Wind, nur übertönt vom Brüllen des Hungers, der sich schon viel zu lange in der Stadt eingenistet hatte.

Er brüllte: „Brot!“

Er brüllte: „Fleisch!“

Manchmal gelang es ihm nur noch zu jammern: „Irgendetwas. Etwas, das wenigstens kurz satt macht!“

Der Hunger war ein lauter Begleiter, der sich mit seinen spitzen Klauen an mich hängte, die Nägel tief in meine Schultern grub und sich mitschleifen ließ. Als ich mich bückte, um Wasser in den Handflächen zu sammeln, erschreckte mich eine Stimme: „Das darfst du nicht trinken. Davon wirst du krank.“

Die Flüssigkeit rann mir aus den Händen.

„Wo ist dein Zuhause?“

Diese Frage hatte mir zuletzt meine uralte Lehrerin gestellt, als die Angriffe begonnen hatten und die Kinder in alle Richtungen rannten. Ich wies irgendwo hin, meine Hand zitterte und schien mir nicht wie meine eigene. Sie sah mich gar nicht an, nickte nur und ließ mich laufen.

Vor lauter Angst hatte ich vergessen, wo mein Zuhause war. Ich kannte die Adresse, doch ich wusste sie nicht mehr einzuordnen, ihr kein Gesicht zu geben. Ich wusste nicht, an welcher Ecke ich links oder rechts abbiegen musste. Mein Heimweg war nicht lang, doch noch während ich auf ihm herumirrte und mich immer wieder durch falsche Gassen zurücktasten musste, veränderte er sich durch Krater, durch auf die Straße stürzende Häuserreste und explodierende Steine. Er dauerte Tage.

Als ich mein Zuhause schließlich wiederfand, ein lautes Fiepen in den Ohren und brennende Schnittwunden am Hals, lag es in Schutt und Asche. Meine Eltern wohl darunter, zerquetschte Knochen und Gesichter, die keine mehr waren. Voller Hoffnung, voller Panik begann ich, nach ihnen zu wühlen, aber wie sollte ich all die Steine anheben und wo sollte ich sie hinlegen, wenn es doch sogar Steine regnete? Meine Mutter war sehr gläubig gewesen, und auch wenn ich ihre Gebete nur nachmurmelte, ohne sie zu verstehen, machte ich mir Sorgen, ob ihr Gott sie so finden würde.

Ich verließ unsere Straße und kehrte nicht mehr zurück. Mein Bruder war nicht daheim gewesen. Er half bei dem Schreiner am Rand zum nächsten Viertel aus, statt in die Schule zu gehen, wie unser Vater es sich wünschte. Ich hingegen war fleißig und lernte, doch war ich lange nicht so schlau und meinem Vater lange nicht so wichtig; ich war schließlich nicht der Erstgeborene. Mein Bruder holte mich oft von der Schule ab, wenn er frei hatte.

„Du machst das schon gut so, Kleiner“, sagte er und legte seine Hand auf meine Schulter.

Wochen später sah ich ihn wieder, unverletzt, doch zu einem wilden Tier geworden, das für niemanden mehr Mitleid aufbringen konnte, nicht einmal – oder erst recht nicht – für das letzte Stück Familie, das er noch hatte. Er wollte kaum mit mir sprechen, verteidigte alles, was er fand, und das war nicht viel. Es gab immer noch stärkere Jungen als ihn; er hatte genug zu tun, sich gegen die zu behaupten. Schließlich schickte er mich weg, ich solle allein zurechtkommen.

„Wo ist dein Zuhause?“, wiederholte der große Mann. Er hatte eine merkwürdige Aussprache.
„Ich verstehe dich nicht“, flüsterte ich und starrte auf den Schlamm an meinen Füßen. Vielleicht würde er verschwinden, wenn ich mich nicht regte.

Tatsächlich ging er nach einigen Augenblicken weiter. Ich betrachtete seinen blonden Hinterkopf, dann seine Schuhe, knöchelhohe, lederne Schuhe, sog seine fremdartige Erscheinung hastig in mich auf. In sicherem Abstand folgte ich ihm durch die Straßen. Die Leute, die hier regelmäßig unterwegs waren, frühere Bewohner, hatten sich schmale Wege durch den Schutt gebahnt. Manche Abschnitte waren so sauber gefegt wie früher die Gehsteige. An anderen Stellen fand man immer wieder Überreste eines alten Lebens, als wäre über Nacht die Flut gekommen und gegangen und hätte sie angespült. Doch lange blieben sie nicht liegen. Gebrauchsgegenstände wie Besteck oder Kleidung waren sofort verschwunden, Bilder und Fotos warteten länger, als wollte man ihnen noch die Gelegenheit geben, ihre richtigen Besitzer wiederzufinden.

Bald blieb der blonde Mann vor den Ruinen eines Hauses stehen, in dem früher ein kleiner Supermarkt gewesen war. Ich hatte ihn nie betreten; wir waren immer in einen anderen Laden gegangen, in dem einer von Mutters Cousins gearbeitet hatte. Manchmal hatte er uns etwas gerade Abgelaufenes preiswerter verkauft und, wie Mutter vermutete, den gesamten Betrag selbst eingesteckt. Doch wir hatten eigentlich immer genug Geld, und Mutter konnte ihre armen, aber stolzen Verwandten auf diese Weise ein wenig unterstützen.

In einer Ecke hatte der ehemalige Besitzer – oder war er nur jemand, der hier einen freien Unterschlupf gefunden hatte? – drei Paar Brillen aufgereiht, nur noch eine hatte ein einziges Glas. Daneben zwei Gläser eingemachte Oliven und fünf Äpfel.

Leute wie er würden lieber sterben, als mir ihre wertvolle Ware zu geben, auch wenn sie schon verrottete. Wenn es mir einmal gelang, in einem unbeobachteten Moment nach irgendetwas zu greifen, kreischten sie wütend und rannten hinter mir her; wenn sie mich erwischten, wurde ich zu Boden geworfen, und sie traten ein paar Mal zu, auch nachdem ich meine Beute schon längst fallengelassen hatte. Meist zischten sie bereits aufgeregt, wenn ich mich ihnen nur näherte. Der hier hatte sich jedoch so gut in einer Ecke verschanzt, dass ich ohnehin nicht nahe genug an ihn herankam. Wenn ich nur nicht so ungeschickt wäre. Meinem Bruder war es manchmal gelungen, unserem Vater etwas Geld zu klauen, wenn er seine Hose irgendwo abgelegt und vergessen hatte, die Taschen zu leeren. Ich fand es falsch und wäre bestimmt auch erwischt worden.

Tatsächlich kaufte der blonde Mann etwas. Der Händler überschlug sich fast vor Höflichkeit. Er nahm einen zerknitterten Schein und mehrere Münzen entgegen und reichte dem Fremden dafür das Obst in einer aus fettigem, altem Zeitungspapier gedrehten Tüte.

Ich ging zurück zum Wasser, wo ich die Füße wieder in den Matsch grub; dort war es kühl. Flussaufwärts waren drei junge Männer ins tiefere Wasser gewatet, doch sie taten nur einige ruhige Schwimmzüge, statt wie früher lachend herum zu plantschen und sich gegenseitig vollzuspritzen. Sie gehörten zu den stärkeren Jungen, denen auch mein Bruder aus dem Weg ging, aber auch sie lauschten noch immer.

„Hier“, sagte jemand.

Als ich mich umdrehte, streckte der Mann mir seine Tüte mit den alten Äpfeln entgegen. Ich schaute ihn an und sagte nichts.

„Hier“, wiederholte er mit seinem komischen Akzent. „Nimm sie.“

Ich ließ die Arme hängen und blickte mich um.

„Ich habe kein Geld.“

Was dachte er sich nur? Ich war ein Schlammklumpen, mein Magen ein Loch, das immer größer und größer wurde. Ein Nichts, das mich ausfüllte und aus mir selbst vertrieb. Seit vier Tagen hatte ich nichts mehr gegessen, nur ein paar Körner aus dem Dreck aufgepickt wie eine Taube. Doch statt eines Kropfes hatte ich einen dicken, aufgeblähten Bauch, der mich immer aufs Neue dazu zwang, mich hinzukauern und einige Minuten abzuwarten, bis der Krampf sich wieder löste. Ich versuchte, dabei nicht zu wimmern. Mein Bruder hätte auch nicht gewimmert.

Wollte dieser Mann wirklich, dass ich ihm seine kostbaren Früchte abkaufte? Wie er da stand mit seinem glänzenden Haar und seinen ledernen Schuhen.

„Ich schenke sie dir“, sagte er.

„Schon ziemlich alt, aber vielleicht schmecken sie ja noch.“

Ungläubig schaute ich ihn an. Über ihm, oben an der Straße, tauchte plötzlich mein Bruder auf. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit die Bomben nicht mehr fielen, und hatte schon überlegt, was wohl aus ihm geworden war. Er wollte mich nicht bei sich haben, wollte mir nicht helfen; trotzdem sollte er natürlich nicht auch unter Ruinen begraben sein. Er hatte die Beine breit aufgestellt, die Hände in die Taschen geschoben. Vielleicht musste er so auch nur seine Hose festhalten, damit sie nicht rutschte. Er war so abgemagert. Mit abwartenden Raubtieraugen blickte er auf den leuchtenden Fremden.

„Hier.“

Ohne weiter zu überlegen, griff ich nach der Tüte, die der Mann immer noch in seiner ausgestreckten Hand hielt, und rannte davon.

Ich blickte mich nicht um, wollte nicht sehen, wie er hinter mir herlief, er hatte sie mir doch nicht wirklich schenken wollen, das war doch bestimmt eine Falle gewesen, ich wollte nicht sehen, wie mein Bruder ihm gierig folgte, hoffte nur, dass ich schneller war.

Hinter einer Hauswand blieb ich stehen und schnappte nach Luft. Schnell riss ich die Tüte auf und stopfte das Obst in mich hinein, fünf braungefleckte Äpfel. Ich schaute sie kaum an, schlang sie ohne lang zu kauen hinunter. Sofort wurde mir übel. Ich hielt mir den Bauch vor Schmerzen und übergab mich auf den Boden.

***

Diese Kurzgeschichte erschien am 27. November 2016 auf zugetextet.com.