17. März 2025

Die Auserwählte

Achtung: In diesem Blogartikel über Margaretha Peter geht es um körperliche Gewalt mit einigen grafischen Beschreibungen.

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Wildensbuch, ein schweizerischer Weiler in der Nähe von Schaffhausen. Mitternacht zu Ostern 1823. Wütendes Geschrei bei der Familie Peter, ein Lärm wie Mord und Totschlag. Selbst der Oberamtmann zögert, bis er schließlich doch die Tür aufbrechen lässt.

Wehret euch bis aufs Blut!

Als die Männer das Petersche Haus betreten, bietet sich ihnen ein Bild wie aus einem Schauerroman: Bei flackerndem Kerzenschein stehen dort Männer und Frauen und schlagen mit den Fäusten auf sich selbst ein, malträtieren sich Kopf und Brust. „Hauet zu“, ruft Margaretha Peter, „wehret euch bis aufs Blut!“

Margaretha ist, das verraten spätere Polizeiakten, eine kleine, hübsche Frau, 29 Jahre alt, schlau, freundlich und aufgeweckt. Ein Glückskind, an Weihnachten geboren.

Druckgrafik eines Hauses mit Garten mit der Beschriftung "Das Petersche Haus zu Wildenspuch worin die schaudervolle Kreuzigungsgeschichte vorgefallen."

Jacob Ganz und die Sonnenfrau

Zwei Persönlichkeiten sind dafür mitverantwortlich, dass Margaretha Peter in ihrer Stube steht und schon bald nach mehr Blut verlangt. Für die höllischen Geister, die sie plagen.

Da ist Jacob Ganz, ein Vikar aus Aargau, der donnernde Bußpredigten hält und allen, die sich von ihm nicht bekehren lassen, mit dem Teufel droht. Als einer seiner Anhänger Selbstmord begeht, gerät Ganz einmal mehr mit den Behörden in Konflikt und flüchtet sich zur Baronin Juliane von Krüdener – der „Sonnenfrau“.

Eine Missionarin, die nach ihrem eigenen Erweckungserlebnis unter freiem Himmel predigt und dabei angeblich Arme gegen Reiche aufhetzt, denn sie organisiert Suppenküchen und kritisiert Besitz und Reichtum. Vor allem junge Frauen lassen sich von ihr begeistern, denn sie ist von der Gleichwertigkeit von Mann und Frau überzeugt. Auch sie entsprechend den Behörden ein Dorn im Auge.

Margaretha Peter ist eine dieser jungen Frauen und lernt bei der Baronin Jacob Ganz kennen. Sie trifft sich öfter mit ihm, und er bestärkt sie in ihrem Glauben, selbst eine Missionarin, gar eine Prophetin zu sein. Sie berichtet von Visionen.

Ménage à trois

Und tatsächlich pilgern bald die Ersten – Adlige genauso wie Arme – zu Margaretha nach Wildensbuch, wo sie eigene Erweckungsveranstaltungen durchführt. Auch ein Flickschuster kommt zu ihr, Jacob Morf heißt er, und bittet sie um seelischen Beistand. Sie verlieben sich, Margaretha Peter zieht zu ihm und seiner Frau nach Illnau. Neun Monate später, im November 1822, bringt sie eine Tochter zur Welt. Niemand ist überraschter als sie selbst, hat sie doch ihre ausgebliebene Periode als Zeichen des Sieges der Seele über die Natur gesehen.

Sie lässt das Kind zurück, das Schusterpaar zieht es als ihres auf.

Mit ihr in den Wahn

Zurück in Wildensbuch bei ihrer Familie. Sie zieht sich in ihre kalte Kammer zurück. Schuldgefühle. Visionen vom Teufel, der zurückkehren und sie alle strafen wird. Sie ist die Einzige, die ihn besiegen kann, auch wenn sie dabei stirbt. Am dritten Tage werde sie wieder auferstehen.

Es ist der Donnerstag vor Ostern 1823.

Druckgrafik der sieben Personen, die am Wildensbucher Prozess beteiligt waren

Was ihre vier hinzugerufenen Schwestern von diesen Visionen halten, der Bruder, der Vater (selbst ein „Erweckter“)? Ein Knecht ist dabei und eine Magd. Eine Freundin. Zwei Schwager. Sie alle folgen ihr in den Wahn.

Margaretha Peter beginnt, auf Wände, Tische, Stühle einzuschlagen. Dort habe der Teufel sich versteckt, „du Seelenmörder“ ruft sie ihm zu. Verlangt nach Äxten und man solle die Fenster verhängen. Jetzt erfasst alle die Zerstörungswut. Sie hauen und schlagen erst auf herbeigeschaffte Holzklötze, dann auch auf Möbel, auf den Boden, auf die Wände ein. Am Nachmittag gegen vier fällt das erste Stück Fachwerk aus der Hauswand.

Druckgrafik eines Zimmers in einem Haus. Mehrere Menschen stehen betend dabei, während eine Frau auf eine andere Frau einschlägt, die auf einem Bett liegt

Eine der Schwestern, Elisabetha, 38, bleibt wie in Trance im Raum stehen, mit großen Gebärden, als wäre der Teufel in sie gefahren. Still, auf den Knien, wird gebetet.

Doch schon bald geht es weiter mit dem Wahn, bis Schaulustige den Oberamtmann und die Landjäger rufen und diese die Familie überwältigen. Als Erklärung bekommen sie nichts als fanatische Phrasen. Dennoch entscheiden sie sich dagegen, die beiden Eifrigsten – Margaretha und Elisabetha – in eine Anstalt einzuweisen.

Vorerst ist Ruhe.

Hörner aus seinem Bauch

Margaretha und Elisabetha verbringen den Karfreitag betend in der Kammer. Am Abend holen sie die anderen dazu. Sie alle sollen büßen, sich selbst geißeln, wie am Vortag. Als ihr Bruder Caspar nach Hause kommt, greift Margaretha sich einen Eisenkeil und schlägt ihm wiederholt auf den Kopf: Hörner würden aus seiner Stirn wachsen, Hörner aus seinem Bauch.

Caspar verliert das Bewusstsein, Elisabetha stürzt sich in die Arme der tobenden Schwester und möchte sich für ihren Bruder opfern. Sie legt sich auf das Bett. Margaretha schlägt zu, wieder mit Eisen. Bald ist die junge Frau tot.

Margaretha legt sich daneben und verlangt von den anderen, sie sollen sie kreuzigen. Denn die Auferstehung sei ihr sicher: „Schlagt zu, Gott stärke euern Arm!“ Und sie gehorchen. Mit Balken und Nägeln. „Ich fühle keinen Schmerz, es ist mir unaussprechlich wohl!“, schreit sie. Als Letztes wird ihr der Kopf gespalten. Da stirbt auch sie.

Druckgrafik einer Szene, in der mehrere Menschen eine Frau ans Kreuz nageln

Die Nachwirkungen

Auch nach drei Tagen ist Margaretha Peter nicht wieder auferstanden, obwohl ihr sogar, zur Erleichterung des Vorgangs, die Nägel aus dem Körper gezogen wurden. Erst jetzt meldet der Vater dem Pfarrer, zwei seiner Töchter seien gestorben.

Kaum spricht es sich herum, dass die Prophetin tot ist, kommen ihre Verehrer:innen nach Wildensbuch gepilgert, um Margarethas Blut von den Laken oder Wänden zu kratzen. Eine Märtyrerin sei sie gewesen.

Elf Beteiligte werden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt, das Haus abgerissen. Nie wieder, so das Gericht, solle an dieser Stelle ein Wohnhaus errichtet werden.

Warum?

Ich bin bei meinen Recherchen über diese Geschichte gestolpert, und ich kenne mich weder gut mit religiösem Eifertum aus noch mag ich grafische Beschreibungen von Gewalt. Oder Gewalt an sich. Und dennoch ist mir Margaretha Peter nicht mehr aus dem Kopf gegangen: Wie entsteht ein solcher ekstatischer Wahn? Warum waren es oft Frauen, die ihm verfielen, gerade im Umfeld der pietistischen Strömungen, mehrfach in abgeschiedenen Dörfern?

Der Pietismus war für Menschen verlockend, die mit der streng dogmatischen Institution Kirche und dem Machtstreben der Kirchenmänner nichts mehr anfangen können, setzen ihre eigenen, persönlichen oder gemeinschaftlichen Gotteserfahrungen in den Mittelpunkt. Die Bibel ist ihre zentrale Richtschnur. Radikale Strömungen wollen sich gar von der Staatskirche abwenden.

Frauen waren von offiziellen Ämtern und genauso wie von allen öffentlichen Entscheidungen ausgeschlossen, ob politisch oder religiös. Vielleicht liegt es am Kontext der Erweckungs- und Befreiungsbewegung, an der Suche nach etwas Schwärmerischem, Neuem, dass sich hier kurzzeitig Frauen wie die Baronin von Krüdener oder eben Margaretha Peter als charismatische Führerinnen entwickeln konnten.

Ob auch die gesellschaftliche Isolation auf dem Dorf dazu beitrug? Wie musste es sich anfühlen, plötzlich über ihre ganze Familie zu herrschen, auch über Brüder, Vater, Schwager?

Was ist mit ihrem Kind, das sie bei den Morfs zurückgelassen hat? Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie erneut schwanger. Von wem? Und die Hörner ihres Bruders Caspar, am Kopf, aber auch im Bauch, nicht schwer zu erkennen als phallische Symbole.

Unter irgendeiner psychischen Krankheit muss sie wohl gelitten haben. Postpartale Psychose? Schizophrenie? Manie? Das lässt sich heute natürlich nicht mehr diagnostizieren. Letztlich ist es keine Schauergeschichte, sondern vor allem eine traurige, die ich für mich nun zur Ruhe legen kann.

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Quellen:
Jean Villain: Der erschriebene Himmel: Johanna Spyri und ihre Zeit. Nagel & Kimche 1997.
Schweizerisches Nationalmuseum: Viel Blut fliesst in Gottes Namen, Stand: Februar 2025.
NZZ: Eine junge Frau befiehlt den Mord an ihrer Schwester, dann lässt sie sich selbst kreuzigen. Sie schreit: «Ich fühle keinen Schmerz, es ist mir unaussprechlich wohl!». Wie in einem kleinen Zürcher Dorf eine Teufelsaustreibung grauenvoll endete, Stand: Februar 2025.
Bilder von e-rara