Die Roeblings und der Spiritismus
Lily Dale ist ein kleiner Ort mit nicht einmal dreihundert Einwohner:innen im Staat New York, umgeben von drei Seen. (Die Seen in New York haben die wunderbarsten Namen: Cassadaga Lake, Adirondack Lake, Bear Cub Pond, Canandaigua Lake, Seneca Lake … Bill Bryson schreibt in seinem A Walk in the Woods: „Who could say the words ‚Great Smoky Mountains‘ or ‚Shenandoah Valley‘ and not feel an urge, as the naturalist John Muir once put it, to ‚throw a loaf of bread and a pound of tea in an old sack and jump over the back fence‘?“ Aber ich schweife ab …)
Lily Dale gilt als eines der Zentren des Spiritismus, wie ich neulich im Podcast Odd Things I’ve Seen des Autors J. W. Ocker erfuhr, der sich dort aus Neugier von einem der zahlreichen Medien die Zukunft lesen ließ.
Heutzutage klingt das für die meisten von uns ziemlich verrückt. Zu Emily Warren Roeblings Zeiten jedoch spielte der Spiritismus in der US-amerikanischen Gesellschaft eine ziemlich große Rolle, zum Beispiel auch für Cornelius Vanderbilt, Eisenbahnbaron und Börsenspekulant, der sich von den Schwestern Victoria Woodhull und Tennessee Claflin die Aktienkurse vorhersagen ließ. Recht erfolgreich sogar.
Edward, das Medium
Auch John A. Roebling, dieser widersprüchliche Mensch und Schwiegervater meiner Heldin Emily, hatte im Jahr 1867 eine Phase, in der er die ganze Familie zu Séancen um sich versammelte. Sein Neffe Edward Riedel diente als Medium, und schon bald kamen verschiedene Geister und verständigten sich durch Klopfen. Als sie sich der Präsenz seiner verstorbenen Ehefrau Johanna versichert hatten, stellte John ihr erst einmal Fragen nach anderen Bekannten im Jenseits. Denen ging es zum Glück allen gut. Auch Johanna selbst hatte allen irdischen Schmerz hinter sich gelassen, und natürlich habe sie ihrem Ehemann längst die schlechte Behandlung verziehen. Welch ein Glück für den cholerischen, oft brutalen John, der es ihr im Leben nie einfach gemacht hatte …
Das Land der Geister und die Sphären
Danach unterhielten sie sich über die wirklich wichtigen Dinge, weil er keine Zeit mehr mit solch persönlichem chit-chat vergeuden wollte: Er fragte sie über das Land der Geister und die Sphären aus, und auch hier bestätigte seine tote Ehefrau wunderbarerweise all seine in langen Tagebucheinträgen entwickelten Annahmen und Theorien.
Nach einem Dutzend solcher Sitzungen war er zufrieden und konnte sich erneut seiner Brücke widmen, die nun endlich genehmigt werden sollte. Der Spiritismus geriet nicht nur bei John A. Roebling in den Hintergrund, sondern in der gesamten Gesellschaft. Die glaubte nämlich nach und nach, dass all die neuen Technologien und wissenschaftlichen Fortschritte (Elektrizität!) wirklich auf Naturgesetze zurückzuführen waren und nicht auf Geister. In Lily Dale jedoch gespenstern wohl noch so einige herum …