In der Weynachtsbäckerey
Adventszeit! Lebkuchen … Butterspekulatius … Dominosteine … Schokoweihnachtsmänner … Vanillekipferl!
Wer sich für Kulturanthropologie interessiert, kennt bestimmt den unterhaltsamen Aufsatz „Über Leckereyen“ des protestantischen Aufklärers Georg Forster. Veröffentlicht im Jahr 1789 im Göttinger Taschencalender von Georg Christoph Lichtenberg, in dem naturwissenschaftlichen Neuigkeiten populärwissenschaftlich aufbereitet wurden.
Lichtenberg hatte Forster das Buch Om Läckerheter des schwedischen Historikers Bengt Bergius zugesendet, mit der Bitte, etwas draus zu machen. Forster orientierte sich für seinen Aufsatz sehr stark an diesem Buch und übernahm viele Ideen fast wörtlich. Eigene Gedanken sind jedoch auch deutlich zu erkennen. Er spielt beispielsweise auf die sogenannte Vibrationstheorie an, wenn er schreibt, dass die Beschäftigung mit Leckereyen ganz im Sinne der Aufklärung zu Erkenntnisfortschritt führe, der durch Schwingungen des Hirns verursacht werde; und die mehrfache Betonung natürlicher Leckereyen im Gegensatz zu künstlich hergestellten offenbart seine Einstellung, dass die Vielfalt der Natur an sich bereits eine Qualität darstellt, dass sie einen Zweck in sich trägt. Aus diesem Grund konzentriert er sich auch allein auf Naturprodukte, denn „die Natur weiß“, argumentiert er, „ohne alles Zuthun der Kunst, dem Menschen ein Mahl erlesener Leckerbissen zu bereiten“.
„Die Fertigkeit manches jungen Herrchens im Filetstricken“
In der Einleitung betont Forster humorvoll, dass sich Männer eigentlich nicht in die „Frauensache“ Kochen einmischen sollten und dass Männer, die sich zu viele Gedanken um ihre Kleidung – oder die „Putzgöttinn“ – machten und sich sogar am „Filetstricken“ versuchten (ich glaube nicht, dass das etwas mit Schweinefleisch zu tun hat …), recht lächerliche Figuren darstellen. Dennoch habe er ja schließlich auch nicht vor, ein Rezeptbuch zu schreiben.
„Die Fähigkeit zu unterscheiden und zu vergleichen“
Laut Forster geht der Geschmackssinn allen anderen Sinnen voraus. Menschen haben „Nervenwärzchen“ auf der Zunge und dem Gaumen. Heutzutage nennen wir sie wohl eher Geschmacksknospen, aber Forster meinte vermutlich damals schon das Gleiche. Er argumentiert, dass verschiedene Völker – „der Kalmyke, der Tunguse und Kamtschadale, wie nicht weniger der … Amerikaner“ – verschiedene Geschmäcke haben und weist auf ein heute immer noch genauso bekanntes „altes lateinisches Sprichwort“ hin – natürlich „De gustibus non est disputandum“ –, ist dann aber doch noch nicht zufrieden und versucht eine Regel für ein „allgemeines Urtheil“ zu finden. Wichtig sei „die Fähigkeit zu unterscheiden und zu vergleichen“.
„… um zu seinem Hirsebrey Zucker und Zimmt zu genießen“
Das gelingt, sagt Forster, vor allem den Europäern, denn nur sie seien für die Beurteilung eines wahren Geschmackserlebnisses kultiviert und aufgeklärt genug. Alle anderen Erdteile würden Europa deshalb „fröhnen“. Diese etwas arrogante Einstellung überrascht bei dem sonst so weitgereisten und einen gesunden Kulturrelativismus pflegenden Forster. Sogar ein einfacher Bauer in Europa, erklärt er, sei eher als sogenannte primitive Völker in der Lage, über Geschmack zu urteilen, weil er nämlich bereits von der Aufklärungsbewegung profitiert habe und seinen Hirsebrei schon mit Zucker und Zimt genieße.
„… als vielmehr nur das Übermaaß einem Gesunden schaden könne“
„Allein von allem Wohlschmeckenden überhaupt gilt dennoch die Regel“, schreibt Forster, „daß nicht sowohl dessen besondere Eigenschaft, als vielmehr nur das Übermaaß einem Gesunden schaden könne.“ Er will Leckereyen deshalb nicht ganz verdammen, wie es die Kirche und „gewisse Köpfe“ meinen. Warum haben die Menschen einen Geschmacks- und Genusssinn, wenn sie ihn nicht benutzen dürfen? Eine spitze Anmerkung schießt Forster in Richtung dieser Moralapostel:
Sie finden die Selbsterhaltung im Entbehren und Dulden; und ob sie gleich vom Wissen eigentlich nicht viel halten, so glauben sie doch, es könne wohl, eher noch als der Genuß, unsere Bestimmung seyn.
Es sei sinnvoll und völlig ausreichend, den gesunden Menschenverstand einzusetzen, um das vernünftige Maß zu finden.
„… eine Folge des Nachdenkens über einen gehabten Genuß“
Nur diejenigen, schreibt Forster, können wahrhaftig über Geschmack urteilen, die keinen Hunger verspüren und nicht krank oder schwanger sind. Er wendet zwar ein, dass auf diese Weise einige Nahrungsmittel entdeckt worden seien, die ein gesunder Mensch vielleicht niemals probiert hätte (das denke ich mir auch oft … wer hat all das schräge Zeug, das wir so essen, zum ersten Mal zu probieren gewagt?). Doch im Allgemeinen ist für Forster „die Leckerey … eine Folge des Nachdenkens über einen gehabten Genuß, ein Bestreben der Vernunft, die Begierde darnach durch andre Sinne wieder zu reizen“. So greifen Neugier, Freude am Genuss und die Vernunft ineinander, „bis man endlich gar ein Wohlgefallen daran findet zu denken, bloß um gedacht zu haben“. Selten passiere es, dass „Nachahmung, Zwang und Gewöhnung“, „Erziehung“ oder „Mode“ eine Substanz als Leckerey festlegen, die diesen Stellenwert eigentlich gar nicht haben sollte – zum Beispiel Branntwein und Tabak.
Leckereyen sind nicht überlebenswichtig, Hunger und Durst können (und sollten) anders befriedigt werden: Die Natur hat es so eingerichtet, dass die „nahrhaftesten Speisen … insgemein die geschmacklosesten“ sind, die deshalb „am längsten genossen werden“ können.
Essen hat, das wusste auch Forster und die damalige Gesellschaft bereits, großen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit, auf die „Beschaffenheit der Säfte“. Zucker wird bei ihm zwar sehr positiv dargestellt, aber es war auch damals schon bekannt, dass er eine Ursache für viele Krankheiten sein kann. Am direktesten betroffen vom richtigen oder falschen Essen sei natürlich die Verdauung, und Forster verpasst es durchaus nicht, Friedrich den Großen mit seinem „Straußenmagen“ zu verspotten, dessen Robustheit ihn daran hindern würde, „sanfte Regungen des Mitgefühls“ zu empfinden.
„Doch wie sollten die Menschen auch die Wölfe und Füchse verschonen“
Forster sieht sehr wohl, dass die in Europa praktizierten Verfeinerungsmethoden nicht immer die feine Art sind.
Dringt nicht das Messer in die Eingeweide unserer Hüner, um sie zu Capaunen und Poularden zu verstümmeln? Versteht nicht der Sicilianer und bey uns der Jude, die grausame Kunst, den Gänsen eine ungeheure Leber wachsen zu machen?
Er kritisiert, dass natürlich wachsende Pflanzen und in ihrem natürlichen Habitat lebende Tiere verdrängt werden, damit importierte Lebensmittel angebaut beziehungsweise eingeführte Tiere gezüchtet werden können. Zu all diesen Vorgehensweisen, die heutzutage immer noch und in einem damals vermutlich nicht vorstellbaren Maße praktiziert werden, kam im 18. Jahrhundert noch die Kolonialisierung hinzu, die für Forster den Höhepunkt der negativen Auswirkungen bildete und in deren Rahmen Sklaven gegen die Luxuswaren Zucker und Kaffee getauscht und ganze Kriege um Gewürze angezettelt wurden.
„Im Norden fließt ein Syrup aus der Birke“
Doch wie gesagt, auch Forster ist vom süßen Geschmack und der Vielfältigkeit des Zuckers angetan. Süßes könne anderweitig unangenehme Geschmäcker abmildern. Er bleibt seinem Grundsatz treu, vor allem natürliche Stoffe erwähnen zu wollen, und zählt schwärmerisch zahlreiche Süßungsmittel auf, die weltweit in der Natur vorkommen. Gefolgt wird dies von der rhetorischen Frage:
Vermag die so gerühmte Zunft der Wiener und Pariser Köche, vermag das ganze Heer der Confiseurs, Destillateurs und Zuckerbecker nur ein Produkt der Kunst uns aufzutischen, das diese Leckereyen der Natur ersetzte?
Auch Lichtenberg hatte bereits die sogenannte vorherrschende Luxustheorie kritisiert, die sich unter anderem in der Zusammenstellung von Gerichten zeigt, deren Zutaten von möglichst weit her kommen müssen. Dazu geführt hätten insbesondere der höfische Lebenswandel und die dortige Genusssucht nach Kaffee und Schokolade. Vorbild für den deutschen Adel waren damals Länder und Regionen, in denen es eine hoch entwickelte, katholische Hofkultur gab, also Frankreich und Italien, aber auch das exotische Thailand, Teile Chinas und Konstantinopel.
„… dulcis, dolce …“
Bemerkenswert findet Forster, dass die Zunge als Organ „der Vereinigung dieser beyden Naturanlagen, des Geschmacks und der Rede“ sowohl für das Schmecken als auch für das Sprechen verantwortlich ist,
… und selbst die Lispeltöne (… dulcis, dolce, süß, sweet, slodkie,) welche diese Mischung bezeichnen, tragen in Klang und bildlicher Anwendung die untrüglichsten Spuren des hohen Wohlgefallens.
Weitere theoretische Untersuchungen dazu sind in „Über Leckereyen“ leider nicht zu finden, aber praktisch ist Forster sich des Wohlgefallens, den Sprache erwecken kann, durchaus bewusst:
Aus Sonnenlicht und Ätherfeuer gewebt, wie sonst nur Dichter träumen durften, lacht unserm Blick das sanfte Grün der Wälder und Flure; und seht! im unendlich zarten Geäder der Blumenkronen und der reifenden Früchte, glüht der siebenfache Lichtstral … so wie im Zucker selbst … ein Phosphorglanz das inwohnende Licht verräth.
Er verwendet sinnliche Adjektive – „wohlriechend“, „mild“, „lieblich“, „köstlich“, „lecker“, „fein“ – und zählt ausgewählte Früchte auf, deren lautmalerisch klingende Namen Wünsche nach Exotischem und Südseeromantik (oder zumindest Appetit) wecken:
Pisangs, Datteln, Mangos und Mangostanen, Durionen, Nankas, Jambolans, Jambusen, Blinbings, Litschis, Lansas, Rambuttans, Zalacken … die Mombin und Persimon-Pflaumen, die Sapoten, Sapotillen und Mammeifrüchte, die Papayen und Guayaven, der Akajou, die Grenadillen, die Avokatobirnen, die Breyäpfel, und darunter die in Peru so gepriesene Tschirimoya …
Da ist ihm beim Schreiben wohl das Wasser im Munde zusammengelaufen.
Forster hält ein Plädoyer für das Probieren und für die Neugier und unterstützt damit die gar nicht so bekannte Seite der Aufklärung, die sich mit dem Sinnlichen beschäftigt. Der Appell für mehr Genuss, mehr spontane Natürlichkeit war ein erfrischender Ansatz, vor allem wenn man sonst eher Leute wie Kant las, die den Erkenntnisprozess strikt vor die Erfahrung setzten. Forster war hingegen der Überzeugung, dass Geschmacksverfeinerung und die aufgeklärte Gesellschaft sich gegenseitig befruchteten. In diesem Sinne: Nehmt noch ein Kipferl!
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Georg Forster: „Über Leckereyen“, in VIII: Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte, Akademie-Verlag 1974, S. 164–181.