7. Juni 2019

Übersetzen ist nicht Schreiben

Viele Indie-Autor:innen denken darüber nach, ob sie nicht ihre eigenen Werke selbst ins Englische übersetzen oder vielleicht einmal eine dieser Plattformen ausprobieren sollten, bei denen fremdsprachige Autor:innen nach Übersetzer:innen suchen.

Darüber habe ich einen Gastbeitrag für die Selfpublisher-Bibel von Matthias Matting geschrieben, der gestern online gegangen ist. Ich möchte ihn hier auch einstellen. Wie schon auf Facebook vorgewarnt: Lest ihn nicht kurz vor der Mittagspause, wenn ihr eh schon Hunger habt. Es geht auch viel ums Essen.

Übersetzen ist nicht Schreiben

Eine Übersetzung kann man sich als eine zerbrochene Vase vorstellen, bei der man immer die Bruchstellen sehen wird, so sorgfältig man sie auch wieder zusammenklebt. Dieses schöne Bild hat Walter Benjamin einmal benutzt. Aber wir müssen nicht bei irgendwelchen Wissenschaftlern anfangen, wenn es um die Frage geht, ob du dir zutrauen solltest, literarische Texte zu übersetzen.

Die Frage ist vielmehr eine ganz praktische und stellt sich beim Schreiben ganz ähnlich: Beherrschst du das Handwerk?

Vorweg: Die Berufsbezeichnung des Übersetzers oder der Übersetzerin ist nicht geschützt. Es dürfen also alle, die eine Fremdsprache können, einfach mal loslegen. Anders als zum Beispiel bei Architektinnen: Da entscheidet sich ja auch niemand, selbst ein Haus zu bauen, weil es grad im Baumarkt zwanzig Prozent auf alles gibt (außer Tiernahrung). Oder bei Ärztinnen: Würde jemand, der gern Arztromane liest, sich eine Operation am offenen Herzen zutrauen?

Die Gefahr für Leib und Leben mag bei diesen Beispielen größer sein als beim Übersetzen – aber besteht nicht auch ein gesundheitliches Risiko für die Leserin, wenn sie mit viel zu hohem Puls ihr Buch in die Ecke pfeffert, weil der bloody cop kein blutiger Polizist ist sondern ein verdammter? Oder wenn sie sich totlacht, weil die im Original richtig erotische Sexszene in der Übersetzung nur noch peinlich ist?

Aber noch einmal zurück zum Anfang. Da schrieb ich: „alle, die eine Fremdsprache können“. Natürlich musst du den Ausgangstext verstehen, um überhaupt anfangen zu können. Noch wichtiger aber ist die Zielsprache. Deine eigene Muttersprache. Ein Text besteht aus so viel mehr als dem, „was da steht“. Du musst Wortspiele erkennen, zwischen den Zeilen lesen und verborgene Anspielungen finden. Du musst deine eigene (und die fremde) Kultur sowie die Konventionen und die Terminologie des entsprechenden Genres kennen. Du musst den Rhythmus erkennen und kreativ mit Sprache umgehen können – und dennoch bei jedem Absatz, jedem Satz und jedem einzelnen Wort so großen Respekt für die Autorin haben, dass du nicht plötzlich auf die Idee kommst, deinem eigenen Stil zu folgen.

Übersetzen ist nicht Schreiben.

Schreiben ist einfach.

In die Muttersprache übersetzen

Diese Richtung ist bei Literatur jeglicher Art ohnehin die einzige Wahl. Bei Literatur geht es nicht nur um Inhalt, sondern auch um Ton, Stimme und Stil, und diese Kompetenz haben wir – wenn überhaupt – nur in unserer Muttersprache. Am besten ist es vielleicht, das an einem Beispiel zu zeigen. Hier ist ein Auszug aus Gone Girl von Gillian Flynn:

I gained twelve pounds in the months before my disappearance … I can feel my bottom sometimes, on its own, when I walk. A wiggle and a jiggle, wasn’t that some old saying? … I don’t miss men looking at me. It’s a relief to walk into a convenience store and walk right back out without some hangabout in sleeveless flannel leering as I leave, some muttered bit of misogyny slipping from him like a nacho-cheese burp.

Ich bin gerade selbst überrascht, wie klangvoll die Autorin diese Passage gestaltet. Die vielen i-Laute in wiggle, jiggle, relief, convenience, sleeveless, leering, leave, misogyny, slipping, cheese. Die l-Laute in looking, sleeveless, leering, leave, slipping. Die m-Laute in months, bottom sometimes, miss men, muttered und misogyny. Wie soll man das imitieren und gleichzeitig den Inhalt so übersetzen, dass weiterhin nur das da steht, „was da steht“? Muss man den Klang überhaupt nachahmen? Vielleicht hat sich die Autorin gar nichts dabei gedacht?

A wiggle and a jiggle – wie sinnvoll ist es, den Hintern wackeln und wabbeln oder schwabbeln und wabbeln zu lassen und dann dazu zu schreiben, das es da doch so einen Spruch gibt, der nicht einmal im Englischen genau definiert ist? Aber man kann den Halbsatz doch auch nicht einfach weglassen, wie man es vielleicht machen würde, wenn er einem im eigenen Text nicht gefällt. Oder?

Wie ist es eigentlich mit Partizipien, die im Englischen so oft Anwendung finden. Was machst du mit looking, leering, slipping? Übernimmst du die Wortart, oder kannst du daraus drei Nebensätze machen, ohne dass man sich verirrt?

Was ist ein hangabout? Ein Rumhänger? Herumtreiber? Penner? Einfach nur ein Typ oder ein Kerl? Welches Register haben diese deutschen Wörter und welches passt zu der Erzählerin? Die Stilebene muss den ganzen Roman über gleich bleiben, außer sie ändert sich auch im Original bewusst.

Gibt es Nacho-Käse? Oder sind es nicht eher Käse-Nachos, nach denen dieser Kerl stinkt?

Ist ein convenience store ein Supermarkt? Würde dann nicht supermarket da stehen? Oder ist es – laut Wörterbuch – ein Gemischtwarenladen, Nachbarschaftsladen? Reicht es, einfach Laden zu schreiben? Oder Geschäft? Wo ist der Unterschied? Kann es gar ein Späti sein?

In die Fremdsprache übersetzen

Wie gesagt: In diese Richtung schrillen erst recht alle Alarmglocken. Du hast Englisch in der Schule gelernt? Vielleicht auch studiert? Du warst drei bis dreizehn Jahre im Ausland? Dein Nachbar war mal Tauchlehrer in Australien? Nun, es gibt vermutlich immer Ausnahmen von der Regel, aber: Tu es nicht.

Noch ein Beispiel. Nehmen wir Tschick von Wolfgang Herrndorf. Kennen alle, oder? Eine Roadnovel, für Erwachsene genauso geeignet wie für Jugendliche. Zwei Jungs fahren durchs Land und begegnen skurrilen Typen. Klingt doch ziemlich allgemeingültig, könnte auch in den USA spielen. Ein Abschnitt etwa in der Mitte des Buches lautet:

Als wir mit zwei riesigen Norma-Einkaufstüten und einem Kürbis beladen wieder in die Straße bogen, wo der Lada parkte, stellte ich den Kürbis auf die Straße und schlug mich seitwärts in die Büsche, um zu pinkeln. … Der Dorfsheriff hatte uns nicht gesehen. Er kurbelte nur an den Pedalen seines Fahrrads, zog ein Schüsselbund aus der Tasche und versuchte, die abgegangene Kette wieder aufs Ritzel zu drücken.

Wolfgang Herrndorf: Tschick. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2010. S.134–135.

Während wir hier in Deutschland mit der US-amerikanischen Kultur ziemlich vertraut sind, ist das andersherum nicht unbedingt der Fall. Wenige Leute dort werden wissen, was wir als Deutsche mit einem Lada in Verbindung bringen. Wie lässt sich das ins Englische übertragen? Was bedeutet es, dass die beiden Jungs bei Norma einkaufen gehen und nicht bei Rewe oder Edeka? Und wie kannst du das unterbringen, ohne es zu erklären? (Und bitte: keine Fußnoten!)

Wie klingt eine idiomatische Übersetzung von „seitwärts in die Büsche schlagen“? Wenn du im Wörterbuch suchst und tatsächlich to disappear into the bushes findest, woher weißt du, ob das wirklich jemand sagt oder es schon seit dreißig Jahren kein Mensch mehr benutzt?

Wie übersetzt du den Dorfsheriff, wenn der Sheriff im Englischen doch eine offizielle, neutrale Bezeichnung ist, hier aber ganz offensichtlich (und vor allem im Zusammenhang mit „Dorf-“) abwertend oder ironisch für einen Polizisten gemeint ist?

Ritzel … das hat irgendwas mit der Fahrradkette zu tun. Musst du das genauer wissen? Oder reicht ein Blick ins Wörterbuch? Dort wird es mit pinion, sprocket, cog, rear sprocket, sprocket wheel übersetzt. Welches Wort ist um Himmels willen richtig?

Und was für einen Kürbis haben sie da eigentlich? Squash oder pumpkin? Den Autor kann man leider nicht mehr fragen.

Babelcube und Co.

Babelcube, Upwork und ähnliche Plattformen werden immer wieder genannt, wenn es darum geht, doch einmal das Übersetzen auszuprobieren. Bei Babelcube ist das Geschäftsmodell rein auf Tantiemen ausgelegt, das heißt, dass es kein Grundhonorar für die Übersetzerin gibt, sondern nur einen Teil der Autorentantiemen. Verkauft sich das übersetzte Werk also schlecht, bekommst du kaum Geld – und das das übrigens auch erst, wenn die Arbeit, die selbst mehrere Wochen oder Monate dauern kann, längst erledigt ist. Wie zahlst du in der Zwischenzeit deine Miete? Da du als Übersetzerin kaum in der Lage sein wirst, selbst effektiv Werbung für den übersetzten Roman zu machen, bist du hier also vollständig auf die Marketingfähigkeiten der Autorin angewiesen. Wenn sie das aber zu gut kann und sich das Buch ganz gut verkauft, werden deine Tantiemen irgendwann geringer, weil die Autorin (oder die Plattform?) mehr bekommt.

Klingt das wirtschaftlich? Nein. Das klingt nach einem Hobby, dem man vom Küchentisch aus nachgehen kann (ich entschuldige mich für das Klischee), weil die Partnerin genug Geld nach Hause bringt. Dem gegenüber stehen Übersetzerinnen, die eine mehrjährige Ausbildung hinter sich haben oder als qualifizierte Quereinsteigerinnen in die Branche gekommen sind, die Erfahrungen gesammelt haben, die sich ständig austauschen und weiterbilden, um sprachlich und kulturell fit zu bleiben. Und ganz ehrlich – diese Übersetzerinnen haben es nicht nötig, sich bei Babelcube anzumelden. Auch nicht, um Lücken zwischen den Aufträgen zu füllen, wie man so oft hört. Denn in den Lücken netzwerken sie lieber und finden die nächsten lukrativen Kundinnen.

Ende des Rants.

Apropos Kürbis und Käse-Nachos

Neulich hat ein Kollege Übersetzungsdienstleistungen mit Restaurants verglichen: Es gibt Fast-Food-Läden im Einkaufszentrum, bei denen man ein Stück Pizza kauft, das man im Gehen verschlingt, und sobald man ihnen den Rücken zugewandt hat, hat man den Namen vergessen. Es gibt Gaststätten, in die man regelmäßig geht, um das Schnitzel zu essen, das immer völlig in Ordnung ist. Schnitzel halt. Es gibt aber auch Luxusrestaurants, die man sich nicht oft leisten kann, aber wenn, dann sind sie ein außergewöhnliches Erlebnis, an das man sich noch lange erinnert.

Mut zur Professionalität

Was ich damit sagen will? Dass es Hobbyautorinnen geben mag, die mit einer Fast-Food-Übersetzung zufrieden sind. Dass es Genreautorinnen geben mag, denen ein solides Schnitzel reicht, weil ihre Leserinnen nicht besonders anspruchsvoll sind. Das mag für beide Seiten in Ordnung sein. Aber professionelle, langfristig unternehmerisch denkende Autorinnen werden bei Übersetzungen genauso auf Profis zurückgreifen wie beim Lektorat. Das gebietet doch schon allein der Respekt – ja, die Leidenschaft – für unseren Beruf.

Übersetzerinnen sind übrigens ein unheimlich solidarisches, freundliches Volk, das gar nichts gegen Quereinsteigerinnen hat. Aber bitte: Mach uns nicht unsere schwer erkämpften Preise und unseren Ruf kaputt, und sei dir deiner Fähigkeiten sicher. Bilde dich weiter. Es gibt einen einjährigen Master-Studiengang in München und einen Bachelor/Master-Studiengang in Düsseldorf. Es gibt jede Menge Seminare und jedes Jahr im Frühling eine vom VdÜ veranstaltete Tagung in Wolfenbüttel mit hilfreichen Workshops und viel Alkohol äh vielen netten Kolleginnen.

Übersetzen ist nicht Schreiben. Übersetzen ist eine Kunst für sich.