Was Attitüde heißt
In Solch ein zephyrleichtes Leben habe ich beschrieben, wie Ida Brun die Kunstform der Attitüden kennenlernt und weiterentwickelt. Es ist ein seltsamer Begriff, mit dem wir heute nichts mehr anzufangen wissen. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts waren Attitüden jedoch eine beliebte Kunst.
Heute werden sie oft mit lebenden Bildern oder tableaux vivants gleichgesetzt. Wer wie ich die Gilmore Girls ein- bis fünfmal gesehen hat, kann sich vielleicht an The Festival of Living Art (Staffel 4, Folge 7) erinnern, in der Rory die Antea nachstellt und Lorelai die Frau auf Renoirs Tanz in Bougival.
Wenn man es genau nimmt, gibt es jedoch Unterschiede. Tableaux vivants bestehen meist aus mehreren Figuren, Attitüden werden so definiert, dass es Einzeldarstellungen sind. Manchmal werden sie auch Mimoplastik genannt. Von Ida Brun und anderen Künstlerinnen wird berichtet, dass sie eine vom antiken griechischen Stil inspirierte Tunika trugen, also kein einengendes Korsett oder Mieder mehr, sondern fließende Stoffe – meist in weiß, um die Ähnlichkeit zu Marmorstatuen zu betonen. Die Haare trugen sie offen. Alles weibliche Reize, deren offene Zurschaustellung im prüden Alltag zu einem Aufschrei geführt hätten (und Herder nach einer Attitüdenvorführung das Wort „Hure“ in den Mund nehmen ließen). In diesem Kontext trugen sie jedoch zur reinen, unberührbaren Schönheit bei.
Die Künstlerinnen nahmen Schals und Tücher zu Hilfe, um sie um sich zu drapieren und ihre Mimik und Gestik zu unterstreichen, die in ihrer Vielfalt alle menschenmögliche Gefühle ausdrücken konnte. Besonders beliebt zur Zeit des Klassizismus, in der es von Goethe bis Friederike Brun alle sehnsüchtig nach Rom zog, waren Mythen aus der römischen und griechischen Antike, und aus Ida wurde im Handumdrehen Anthea, wurde Galatea, wurde Niobe. Das Wiedererkennen führte bei den Zuschauern zu einer besonderen Freude.
Lady Hamilton
Die berühmteste Attitüden-Darstellerin war wohl die Engländerin Lady Hamilton (1765–1815).
Emma Hart, später Lady Hamilton, wurde in ärmlichen Verhältnissen geboren, irgendwann Mitte der Siebzehnsechziger. […] Über ihr frühes Leben in England weiß man nicht viel: Sie war wohl Dienstmagd, Kindermädchen, vielleicht auch Prostituierte. Dann wurde sie Mätresse eines reichen Manns, der sie jedoch verstieß, als sie ein Kind von ihm erwartete. Sie landete bei Sir Charles Greville, einem anderen Adligen, der sie erst einmal aus der Öffentlichkeit fernhielt und versuchte, sie besser zu erziehen, denn die gehobene Gesellschaft war gnadenlos.
Er war jedoch von ihrer klassischen Schönheit so begeistert, dass er ein Gemälde beauftragte. George Romney war ein begehrter Porträtmaler in London, und Emma wurde zu seiner Muse. Sie saß stunden- und tagelang für ihn, wobei er sie meist als Modell für verschiedene antike Gestalten nahm, hinter denen die wirkliche Emma verschwand – Emma wurde zur Circe, Emma wurde zur Nymphe, Emma wurde zur Göttin und Bacchantin.
Als Grevilles Finanzen und seine Familie nach einigen Jahren von ihm verlangten, standesgemäß zu heiraten, reichte er Emma an einen wohlhabenden Onkel weiter. Er pries sie an wie ein dressiertes Rennpferd: »Sie besitzt eine natürliche Eleganz und passt sich schnell jeder Situation an.«
Dieser Onkel war Sir William Hamilton, britischer Gesandter in Neapel, Kunstliebhaber und geradezu gieriger Sammler, der bereits von Emmas Schönheit und tänzerischer Anmut gehört hatte.
Anfangs hatte er die Idee, einen mannshohen Kasten mit schwarzem Tuch auszuschlagen und mit prächtigem Goldrand zu dekorieren, um sie hineinzustellen wie in einen Bilderrahmen. Sie ahmte bekannte Gemälde oder Statuen für ihn nach, ähnlich wie tableaux vivants, die groß in Mode waren. Der Kunstsammler beliebte zu scherzen, dass er nun plötzlich alle Meisterwerke besäße, die er sich nur wünschen könne.
Allerdings war er niemand, der still und für sich genoss. Gegen den Ratschlag von Greville […] wollte Sir William sein neues Spielzeug auch Gästen und Freunden zeigen. Doch der Kasten war viel zu umständlich zu transportieren. Also präsentierte Emma sich ohne Bühne und trat spontan vor Publikum auf […].
Trotzdem blieb sie noch lange Emma Hart. […] Viele Adlige akzeptierten sie überraschend gut, und sie wurde sogar eine enge Freundin und angeblich politische Ratgeberin der Königin. Aber aus Standesgründen konnte Sir William sie nicht zur Frau nehmen. Sie heirateten erst viel später, und auch da war es noch ein Skandal.
Petra Hucke: Solch ein zephyrleichtes Leben, S. 182–184.
Schaulustige Männer
„Sie besitzt eine natürliche Eleganz und passt sich schnell jeder Situation an.“ Diesen Satz soll dieser grässliche Greville tatsächlich so gesagt haben, und er zeigt genau, welchen künstlerischen Stellenwert die Frauen bei diesen Darstellungen hatten. Sie befinden sich nicht einmal mehr in Bewegung wie beim Tanzen oder im Theater, sondern sind völlig formbar und dann „totgestellt“, wie Dagmar von Hoff schreibt. Erstarrt, sprachlos, geistlos. Wie eine Projektionsfläche – oder ein Gefäß, das es mit seinen Fantasien zu füllen gilt.
Friederike Brun hat in ihrer Autobiografie Idas ästhetische Entwickelung genau berichtet, wie diese Kunst außerdem ein Mittel für sie war, ihrer Tochter Disziplin zu lehren. Sie schreibt, sie habe Ida als junges Mädchen von allen Einflüssen wie Theater und Ballett ferngehalten, damit sie ihre Natürlichkeit nicht verliere. Natürlichkeit war damals nach Rousseaus Schriften das große Erziehungsideal. Doch Ida sei von sich aus so begabt und ehrgeizig gewesen, dass Friederike sich nicht gegen die Wünsche ihrer Tochter habe wehren können, etwas beigebracht zu bekommen. Um die Macht über Mädchenkörper und Mädchenseele nicht zu verlieren, muss sie Ida dann ganz schön getriezt haben. Bekannte erwähnen in Briefwechseln, dass Ida beim Proben regelmäßig in Tränen ausgebrochen sei, und fragen sich, wie sie jemals einen Mann finden solle, denn diese Auftritte im dünnen Kleid waren für das gehobene Bürgertum natürlich nicht standesgemäß.
Friederike war allerdings dadurch eine Ausnahme, dass sie eine Frau war. Meist wurden die Stellungen nämlich von Männern inszeniert – siehe Emmas Sir William – und während der Präsentation durch Kommentare ergänzt. Auch Goethe hat sich an dieser Kunst ergötzt. Seine Gedanken zu Ida sind nicht bekannt, auch wenn sie ihn wirklich in Jena besuchen war. Zu Lady Hamilton schrieb er jedoch in der Italienischen Reise: „So viel ist gewiß, der Spaß ist einzig!“ Der alte Mann und der male gaze in Perfektion.
Henriette Hendel-Schütz
Neben Emma Hamilton erreichte auch die deutsche Henriette Hendel-Schütz (1772–1849) Bekanntheit. Während Emma Hamilton in meinem Roman eine Rolle zugekommen ist, hat Hendel-Schütz leider zeitlich nicht hineingepasst, und sie und Ida haben sich wohl in Wahrheit auch nie gesehen. Stattdessen hat sich die fiktive Gabriele aufgedrängt, der Ida ihre Attitüdenkunst beibringen möchte. Das puppenhafte Aussehen und einen Teil ihrer Kindheitserinnerungen, die Eduard Zernin in seiner Biografie beschreibt, habe ich allerdings von Henriette gemopst. (Die sich auf diesem Bild die linke Brust festhalten muss. #wardrobemalfunction)
Sie war Schauspielerin, kannte Berichte über und Bilder von Lady Hamiltons Kunst und wurde für ihre sogenannten Zyklen bekannt, die aus mehreren zusammengehörigen Attitüden bestanden und sich nicht selten am klassischen Fünf-Akt-Drama orientierten. Neben den antiken Mythen nahm sie biblische Madonnen zum Vorbild, sie hatte eine Begabung für Humor und soll einmal versucht haben, Kleists gesamte Penthesilea aufzuführen. Der Zeitung allerdings war (laut August Langen) diese Aufführung „zuwider“ und „langweilte“. Auch bei Henriette deklamierte übrigens der (vierte) Ehemann einen Text dazu und fungierte als Manager, der ihr Auftritte in europäischen Theatern verschaffte. Anders als Ida, die ja nur im privaten Umfeld auftrat.
Pygmalion: So wie Wachs an der Sonne geschmeidig wird
Auch ein Zusammenhang mit dem Pygmalion-Mythos ist zu erkennen: Bei Ovid wird Pygmalions geliebte Statue Galatea durch seine Berührung zum Leben erweckt.
Er tastet noch, da wird das Elfenbein weich, […] so wie Wachs […] an der Sonne geschmeidig wird […]. Das Mädchen hat den Kuß empfunden, sie ist errötet! Jetzt hebt sie scheu zu seinem Auge ihr Auge empor – und zugleich mit dem Himmel erblickt sie den Mann, der sie liebt.
Ovid: Metamorphosen, S. 543.
Ja, sie errötet und erblickt den Mann, ihren Himmel und Schöpfer. Ich lass das mal so männerfantasiemäßig stehen. Bei den Attitüden geschieht jedenfalls das Umgekehrte: Ida und Henriette erstarren und erreichen die Perfektion einer griechischen Marmorstatue.
Ich erwähne im Roman auch das Pygmalion-Monodrama von Rousseau, mit dem Ida spielt. Das Monodrama an sich kann als Vorform der Attitüden gelten, sieht aber noch Text für die Schauspielerin oder den Schauspieler vor.
Dagmar Hoff spannt in ihrem Buch Dramen des Weiblichen den Bogen bis zur Hysterie und zum ollen Freud, der das Drama der weiblichen Psyche aus dem Salon in das Krankenhaus verlagert hat, und die Illustrationen der Abfolge eines hysterischen Anfalls aus einem Lehrbuch von 1881 weisen frappierende Ähnlichkeiten zu den Zeichnungen von Ida Brun und Emma Hamilton in Aktion auf. Ein interessanter Ansatz, falls da jemand weiterlesen möchte.
Moderne Interpretation im Thorvaldsen-Museum
A. W. Schlegel schrieb über Ida, dass sie die einzelnen Bilder in einen dramatischen Zusammenhang bringe und am Höhepunkt einer Szene für einige Augenblicke verharre. Ich stellte mir dafür eine gewisse Beweglichkeit und Schauspielkunst vor.
Anders interpretiert haben es Ellen und Dagmar Friis aus Kopenhagen, die 2017 in einem Raum des Thorvaldsen-Museums Ida Bruns Attitüden nachgespürt haben. Leider war ich nicht dabei, durfte mir aber eine private Videoaufzeichnung ansehen. Dagmar war damals elf Jahre alt, stand in weißer Kleidung auf einem blauen Tisch und wechselte nach jeweils einigen Minuten ihre Posen. Einen dramatischen Zusammenhang haben sie nicht hergestellt, aber das Bild des Mädchens inmitten der Zuschauer lässt erahnen, wie Ida sich damals gefühlt haben muss. Für die fünf Posen haben sie bekannte Statuen aus der Antike zum Vorbild genommen: Althea, Atalante, Galatea, Aurora und Diana.
Auf dem Bildschirm im Hintergrund sieht man die (von Ellen Friis ins Dänische übersetzten) Gedichte, die Schlegel über Ida geschrieben hat. Dazu wurde Gitarrenmusik gespielt, die im Nachlass des Bildhauers Bertel Thorvaldsen gefunden wurden und die er damals selbst gespielt haben soll – vielleicht sogar zur Begleitung von Ida.
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Quellen:
Louis Bobé: Ida Brun, Grevinde Bombelles. Kopenhagen 1932.
Dagmar von Hoff: Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800. Opladen 1989.
Petra Hucke: Solch ein zephyrleichtes Leben. Norderstedt 2019.
August Langen: Attitüde und Tableau in der Goethezeit. Stuttgart 1968.
Ovid: Metamorphosen. Stuttgart 2010.
Eduard Zernin: Erinnerungen an Henriette Hendel-Schütz. Darmstadt und Leipzig 1870.