15. Februar 2025

Wenn das Heidi nicht mehr springen darf

Ich wage zu behaupten, dass die meisten von euch eher die japanische Trickfilmserie von Heidi kennen statt die zwei Kinderbücher von Johanna Spyri – Heidis Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.

Die Serie von 1974 hat die Vorlage um einige Geschichten erweitert, um 52 Folgen füllen zu können, und dafür die starken religiösen Themen gestrichen. Nähe und Liebe zur Natur wurden in den Mittelpunkt gestellt.

Aber was Heidis Charakter angeht, hält sie sich ziemlich gut an die Bücher aus den 1880er-Jahren: Die Fünfjährige tobt und springt und hüpft wie eine Wilde, die sie da oben auf der Alp ja auch sein darf. In Frankfurt bei Klara wird sie ruhiger, weil sie in ihrem Heimweh und unter der strengen Ägide des Fräulein Rottenmeier so unglücklich ist. Wie sich in diesem Fall innere Gefühle auf äußeres Verhalten auswirken, das hat Spyri in ihrem Buch wirklich wunderbar ausgearbeitet.

Und dann ist da die französische Übersetzung.

Vom Backfischchen zum Großmütterchen

Kennt ihr diese Backfischliteratur wie Nesthäkchen und den Trotzkopf aus der guten, alten Kaiserzeit? In den ersten Bänden sind die Hauptfiguren diese süßen, immer etwas zu frechen kleinen Mädchen, die von ach so liebevollen Eltern, Großeltern, Lehrerinnen in die Form gezwungen werden, die sie als Erwachsene anzunehmen haben – treusorgende Ehefrau, liebevolle Mutter, die ihre eigenen Mädchen auf dieselbe Weise erzieht. Brav sein, keinen Raum einnehmen, keine Meinung haben. Bloß nicht herumspringen. Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Nesthäkchen und ihre Küken. Nesthäkchen und ihre Enkel. Nesthäkchen im weißen Haar. Oder: Trotzkopfs Brautzeit. Trotzkopfs Ehe. Trotzkopf als Großmutter.

Ach, Betty konnte sich noch erinnern, wie ungestüm sie selbst in diesem Alter war. Sie lachte leise und ließ sich auf die Holzbank unter der großen Weide am Fluss sinken. Evchen kam zu ihr gerannt, kletterte ihr auf den Schoß und umarmte sie ungestüm. Betty strich ihr zärtlich über die verschwitzten Löckchen: Komm, Kleines, gräme dich nicht, wenn dich jemand grämt. Sonst mag das Peterle dich nicht mehr und spielt lieber mit Dolly in ihrem hübschen weißen Kleidchen. Also lächle und friss deine Wut in dich hinein, bis du so weise wirst, wie ich es heute bin. Dolly schafft es doch auch irgendwie.

Heidi à la française

Jedenfalls. Die französische Übersetzung.

Bei Spyri wird Heidi in den zwei Büchern nicht erwachsen. Sie erhält aber – ein Blick in die Zukunft – einen gutmütigen, älteren Vormund, Doktor Classen, der für sie sorgen will, denn er hat sich in die Alpen verliebt, ist aber auch nicht mehr der Jüngste und braucht irgendwann eine Pflegerin. Schlimm genug, aber erst einmal entlässt die Autorin ihre Figur in ein noch junges Leben.

Der französische Übersetzer Charles Tritten (1908–1948) hat offenbar schon überlegt, wie sich die Reihe unabhängig von ihrer Autorin fortführen ließe. Zu diesem Thema finden sich zwei Beiträge im Sammelband Heidi – Karrieren einer Figur, die genau analysieren, wie Tritten bereits die fünfjährige Heidi auf Französisch ruhiger und braver gestaltet. Sie springt nicht, sie geht. Sie begreift nicht mehr so schnell und wird nicht mehr so schnell selbst aktiv. Dafür wird der Geißenpeter schlauer, der im Original, zugegebenermaßen kurz vor richtig dumm ist. Aber der Junge muss dem Mädchen wohl überlegen sein.

Weil vermutlich auch die kleinen Leserinnen nicht so schlau sein dürfen, greift ab und zu der Erzähler ein und verlässt die Perspektive des kleinen Mädchens, um zu erklären.

Als Übersetzung im engeren, heutigen Sinne kann man das kaum noch bezeichnen. Aber auf dieser Grundlage können die Folgebände aufsetzen.

Heidi wird erwachsen

Heidi grandit – Heidi wird erwachsen. Heidi jeune fille – Heidi als junge Frau. Heidi et ses enfants – Heidi und ihre Kinder. Heidi gran’mère – Heidi als Großmutter.

Mit fünfzehn geht Heidi in ein Lausanner Pensionat, um ihre Manieren zu verfeinern und Französisch zu lernen. Sie wird Lehrerin. Angemessen als junge Frau, aber nur bis zur Heirat. Wen sie heiratet? Na, den Geißenpeter, aus dem inzwischen doch noch etwas geworden ist, und zwar Gärtner. Ihr erster Sohn macht internationale Karriere in einem Maschinenbau-Unternehmen. Ihre Tochter wird ebenfalls Lehrerin und demnächst einen Herrn Doktor ehelichen und dann natürlich auch wieder aufhören zu arbeiten. Ihr zweiter Sohn liebt das Bergleben, aber übernimmt zumindest die Gärtnerei seines Vaters. Sozialer Aufstieg.

Der Großvater, der gute, alte Almöhi? Der hockt auf seiner Bank und erzählt plötzlich heroische Geschichten aus seiner Zeit in der Armee (wtf).

Mythos und Misogynie

Heidi lässt ihn reden und regiert währenddessen im Haus, ohne sich um die großen Dinge wie die Industrialisierung der Schweiz oder gar einen Weltkrieg zu kümmern. Eine Art „Mutter Helvetia“: Es herrscht Sauberkeit und Ordnung, die erwachsene Heidi hält sich an alle Anstandsregeln, die sie in Frankfurt und Lausanne erlernt hat und an ihre Kinder weitergibt. Körperlichkeit spielt, im Gegensatz zu Spyri, keine Rolle. Geld und Religion nur eine sehr geringe.

In Dörfli bleibt alles beim Alten.

Und somit auch in der Schweiz. Entrückt. Die Welt kann ihr nichts anhaben. Auch aus dem Zweiten Weltkrieg wird sie sich heraushalten. Das war wohl der Mythos, den Charles Tritten durch seine Reihe aufrechterhalten wollte. Den und die Misogynie, die ein solches Weltbild mit sich bringt. Heidi als braves Hausfrauchen.

Zum Glück wurde keiner der Bände je ins Deutsche übersetzt.

Zum Abschluss lasse ich Heidi noch ein bisschen springen, à la Johanna Spyri:

Heidi sprang eilig aus seinem Bett und hatte in wenig Minuten alles wieder angelegt, was es gestern getragen hatte, denn es war sehr wenig. Nun stieg es die Leiter hinunter und sprang vor die Hütte hinaus. Da stand schon der Geißenpeter mit seiner Schar, und der Großvater brachte eben Schwänli und Bärli aus dem Stall herbei, dass sie sich der Gesellschaft anschlossen. Heidi lief ihm entgegen, um ihm und den Geißen guten Tag zu sagen.

»Aber erst waschen und sauber sein, sonst lacht einen die Sonne aus, wenn sie so schön glänzt da droben und sieht, dass du schwarz bist; sieh, dort ist’s für dich gerichtet.« Der Großvater zeigte auf einen großen Zuber voll Wasser, der vor der Tür in der Sonne stand. Heidi sprang hin und patschte und rieb, bis es ganz glänzend war.

Heidi sprang hierhin und dorthin und jauchzte vor Freude, denn da waren ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen beieinander, und dort schimmerte es ganz blau von den schönen Enzianen, und überall lachten und nickten die zartblätterigen, goldenen Cystusröschen in der Sonne.

Es sprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite, denn dort funkelte es rot und da gelb und lockte Heidi auf alle Seiten.

Augenblicklich sprang Heidi in die Höhe und rannte mit seiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.

»Was ist es denn?«, rief Heidi und sprang hierhin und dorthin, dass es überallhin sehe, denn es konnte gar nicht genug bekommen, so schön war’s auf allen Seiten.

***

Quellen:
Elisabeth Abgottspon: „‚Heidi‘ – übersetzt und verändert von Charles Tritten“, in Ernst Halter: Heidi – Karrieren einer Figur, Zürich 2001. S. 221–235.
Roger Francillon: „Heidis Metamorphosen“, in Ernst Halter: Heidi – Karrieren einer Figur, Zürich 2001. S. 237–251.
Johanna Spyri: Heidis Lehr- und Wanderjahre. Projekt Gutenberg.