10. Mai 2021

Adia Murmarera

Adia Murmarera ist der Titel eines Gedichts von Pater Alexander Lozza, das im rätoromanischen Dialekt geschrieben ist. Es gibt in der Schweiz fünf solcher Dialekte, die Idiome genannt werden und im Kanton Graubünden gesprochen werden. Lozza schrieb im Idiom Surmiran oder Surmeirisch.

Pater Alexander Lozza wurde 1880 als eines von zwölf Geschwistern in Castigl geboren. Mit fünfzehn Jahren ging er in ein Kapuzinerkloster bei Genua und kehrte nach elf Jahren heim, wo er nacheinander die Pfarreien Tumegl/Tomils und Salouf/Salux übernahm und dann Kustos der Wallfahrtskirche in Ziteil wurde. Sein ganzes Leben lang dichtete er, aber erst mit ungefähr fünfzig fing er an, in seiner Muttersprache zu schreiben.

Der Jäger Alessandro

Ganz so würdevoll, wie sich das anhört, war sein Leben aber wohl nicht (oder nicht nur), denn der gute Pater ging gern jagen. Zu gern. Erlaubt war das nicht. Einer seiner Nachfahren, Othmar Caviezel, schreibt in einer fiktionalisierten Erzählung davon, wie Lozza an einem Sonntag schnell die Frühmesse hinter sich bringt, damit er das machen kann, worauf er wirklich Lust hat – auf den Berg klettern und einem Gamsbock mit einem „siebenzackige(n), weisse(n) Sternbild“ auf der Stirn hinterhersteigen. Doch gerade, als er ihn schießen will, fällt Alessandro in eine Felsspalte, aus der er erst am nächsten Tag wieder herauskommt: Bei einem Gewitter stürzt ein Baum so, dass er daran hochklettern kann. Die abendliche Sonntagsmesse hat er inzwischen verpasst, und zurück im Dorf wartet ein zweites Donnerwetter auf ihn.

Ob der echte Pater Lozza wirklich einmal eine Nacht so verbracht hat, weiß man nicht. Aber was man weiß: dass er viel geschrieben hat, Novellen, Theaterstücke, Lyrik. Dazu gehört auch das Gedicht Adia Murmarera als Abschiedsgruß an das Dorf Murmarera oder Marmorera.

Der Kirchturm im Reschensee

Viele kennen, vermutlich nicht zuletzt durch Instagram und den Diogenes-Roman Ich bleibe hier von Marco Balzano, den Reschensee und den ikonischen Kirchturm, der dort aus dem türkisblauen Wasser schaut. Dort wurden der Ort Graun und andere Ansiedlungen geflutet, um einen Stausee zu schaffen. Marmorera am Fluss Julia oder Gelgia liegt zwei Autostunden entfernt, aber das gleiche Schicksal hat auch dieses Dorf und seine landwirtschaftlichen Nutzungsgebiete auf dem Talgrund ereilt. Zum Glück nicht auf ganz so brutale Weise wie am Reschensee, wo die Einwohner gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen und halbfertige Baracken zu beziehen, als das Wasser bereits in die Keller lief. (Der Roman von Balzano ist wirklich zu empfehlen!)

Energie für die Großstadt

Der zukünftige Marmorera-Stausee sollte ein Elektrizitätswerk speisen, weil der Energiebedarf so stark gestiegen war – allerdings nicht in Graubünden selbst, sondern in Zürich. Agl grond Moloch, Turitg, schrieb der bereits erwähnte Pater Alexander Lozza, sacrifitgeschas l’istorgia, igl lungatg, la tradiziun! Dem großen Moloch Zürich opferst du Geschichte, Sprache und Tradition.

Die 24 Familien in Marmorera, mit insgesamt 96 Personen, sollten Entschädigungen bekommen, und so stimmte das Dorf 1948 ab. Das Ergebnis schien ziemlich klar: 24 Ja-Stimmen, 2 Nein-Stimmen. Allerdings, so schreibt Peter J. Mark in seinem Büchlein Ein Bergdorf geht unter, muss berücksichtigt werden, dass Grund und Boden in den Händen nur einiger weniger Menschen lag – den wohlhabendsten des Dorfes. Die Mehrheit besaß keine Liegenschaften und hatte bei einer Umsiedlung nicht viel zu verlieren, bekamen aber trotzdem Geld. Außerdem gingen natürlich nur die Männer zur Abstimmung, denn in den 1940ern hatten die Frauen in der Schweiz noch kein Wahlrecht. Einige verwitwete Frauen besaßen landwirtschaftliche Flächen, die sie nun aber verteidigen konnten.

Es ist also kein Wunder, dass man von verwerflichen Methoden und Zwangsenteignungen sprach sowie davon, dass Zürich die Marmorerer:innen intelligent gegeneinander ausspielte. Eine Witwe soll einem Projektvertreter bei einem Besuch eine Pistole auf die Brust gesetzt haben. Geholfen hat es nichts. Genauso wenig wie die über Nacht wiederholt verschwundenen Vermessungspflöcke.

Wir rissen Bilder von der alten Wand

Pater Lozza verlieh seiner Betroffenheit in einem weiteren Gedicht Ausdruck. Die dritte und vierte Strophe lauten in der Nachdichtung von Christian Erni:

Wir? Singen? Nein, o nein, doch hört nur dies:
Wir rissen Bilder von der alten Wand,
dann wie verfemt entflohen wir dem Dorf,
vorbei der alten Kirche und den Gräbern;

Und nicht zurückgeschaut auf arbeitsreiche Fluren,
als lägen drüben Sodom und Gomorra;
ein totes Meer, die Heimat tief versunken.
So leichthin haben wir’s gewollt – und nun dahin.

29 Wohnhäuser, 52 Ställe

Einige Marmorerer:innen wanderten aus, aber die meisten fanden in einem ungeliebten Neu-Marmorera „auf einer windigen, felsigen Anhöhe“, weiter unten im Tal oder anderswo in der Nähe eine neue Heimat. Die Entschädigungen reichten bei allen aus, um noch einmal von vorn anzufangen. 29 Wohnhäuser, 52 Ställe und Speicher, Kirche und Schulhaus, so schreibt Mark, wurden – anders als in Graun – abgerissen. Aus diesem See sollte kein pittoresker Kirchturm ragen, und auch der Rest der Bausubstanz galt architektonisch als wenig interessant. Der Friedhof wurde nach Neu-Marmorera umgesiedelt. 1954 wurde ein letzter Gottesdienst gehalten, und bald darauf versank das Tal im Wasser.

Heute sieht er schön aus, der See, passt gut dorthin, als läge er bereits seit Jahrtausenden dort. Ganz unten auf dem Foto sieht man die mit Gras überwachsene Staumauer.

Luftaufnahme des türkisblauen Marmorera-Sees, der von bewachsenen Bergen umgrenzt ist. Am unteren Bildrand sieht man die Staumauer.

Die Marmorerer:innen haben nicht nur verloren. Das Bauprojekt brachte Arbeit, und laut Mark überließ Zürich „das Verfügungsrecht und sämtliche Einnahmen aus der Wasserkraftnutzung den Gemeinden. … 1952 wurde der Wasserzins je zur Hälfte den Gemeinden und dem Kanton zugesprochen; die übliche Gratisenergie kommt den Gemeinden allein zu“. Außerdem lässt sich im glasklaren Wasser gut tauchen und nach Forellen fischen. Nur einen Kirchturm sucht man vergebens.

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Quellen:
Othmar Caviezel: Der Gottesmann und Jäger Alessandro von Tomils. Eine Bündner Legende. Selbstverlag, Tomils 2011.
Gion Deplazes: Die Rätoromanen. Ihre Identität in der Literatur. Desertina Verlag, Disentis 1991.
Paul J. Mark: Ein Bergdorf geht unter. Das Schicksal von Marmorera. Terra Grischuna, Chur 2005.

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Die Gedichtstrophen im Original:

Cantar? – O na! Avonda vagn bargia,
stratgond portrets e tavlas giu d’pare,
passond cugl noss fagot, scu smaladias,
dasper baselgia e santieri ve!

Partias, scu or da Sodom’ e Gomorra,
nous anavos dastagn er betg vurdar!
Mar morta, blava, corva nossa patria:
pli lev vogl da votar, tgi d’emigrar.