11. Dezember 2018

Apfel, Nuss und Formalin

Eine seltsame Ruhe herrschte in dem spartanischen Umkleideraum. Jemand murmelte seiner Nachbarin etwas zu, aber die nickte nur, und das Gespräch erstarb. Ein paar versuchten so unauffällig wie möglich, noch einmal die Unterlagen durchzusehen. Das Papier raschelte unverschämt laut.

Der üble Geruch kroch bereits unter der Tür hindurch.

Dimos fuhr ein Schauer über den Rücken. Er bekam keine kalten Hände, wenn er nervös war, er fing auch nicht an zu schwitzen. Es schüttelte ihn nur.

Das hier war etwas, wo sie alle durchmussten, aber er fühlte sich völlig allein.

Tach!

Dimos zuckte zusammen. Florian öffnete einen der noch freien Spinde, stellte seinen Rucksack hinein und zog den weißen Kittel heraus, den alle anderen schon trugen. Mit den Zähnen riss er das Preisschild ab. Dann griff er nach einer Tupperdose, öffnete den Deckel und hielt sie Dimos hin.

Hunger?

Lebkuchen. Weich und nachgiebig, wenn man sie mit dem Finger eindrücken, sie in den Mund stecken würde. Dimos atmete tief ein.

Wie überaus unpassend …

Florian und Dimos drehten sich gleichzeitig nach der Frauenstimme um. An der Wand lehnte ein Mädchen, das Dimos schon einige Male gesehen hatte. Wenn er ihr einmal über die Schulter und in ihr Notizbuch geblickt hätte, hätte er gewusst, dass sie schon jetzt eine erstklassige Sauklaue hatte und Maja hieß. Wenn er sie jemals beachtet hätte, hätte er auch gewusst, dass sie in Vorlesungen und Seminaren mit gesenktem Kopf dasaß und mitschrieb. Dass sie aber genauso gern Fragen stellte und diskutierte wie er. Möglicherweise hätte er ihr auch schon mal auf den wohlgeformten Hintern geguckt. Wenn ihm diese Maja, mit ihrem streng nach hinten gebundenen Pferdeschwanz und dem klaren, offenen Gesicht, schon jemals aufgefallen wäre. Was natürlich nicht der Fall war.

Sie stand allein da und hatte ihren kleinen Besteckkasten und das Skript in den Händen, das der Hiwi ihnen letzte Woche ausgeteilt hatte.

Meinst du mich?, fragte Florian.

Maja zog die Augenbrauen hoch und sah stumm auf Florians vorweihnachtlichen Proviant.

Willst du?

Dimos’ peinlicher Mitbewohner hielt Maja die Dose hin. Er sprach viel zu laut und schien die Unruhe der anderen gar nicht zu bemerken.

Du weißt schon, was wir gleich da drin machen werden, oder?, flüsterte sie.

Florian stutzte, sah Dimos an und dann wieder Maja. Eine Lachsalve ratterte durch den Raum: Habt ihr etwa Schiss?

Maja stemmte sich von der Wand weg, griff nach ihrem Zopf und warf ihn mit einem Schwung auf den Rücken.

Quatsch.

Als hätte der Regisseur des Stücks auf genau diese Stelle gewartet, öffnete sich die Tür, und der Hiwi rief sie in den Saal. Nun herrschte endgültig Stille. Totenstille.

Florian ging voran. Er kaute noch und wischte sich die Schokoladenfinger am Kittel ab.

Dimos hielt die Luft an. Schon wieder durchfuhr ihn ein Schauer, und er versuchte, sich nicht zu auffällig zu schütteln.

Hast du etwa Schiss?, fragte Maja. Sie war fast so groß wie er.

Quatsch.

Dimos versuchte sich an einem Lächeln. Aber die Gesichtsmuskeln machten, was sie wollten. Maja kicherte und ließ ihn stehen, das Kinn energisch nach vorn gereckt. Dimos war noch nie aufgefallen, dass jemand ein so hübsches Kinn haben konnte.

Der Hiwi in seinem schwarzen Kittel hielt den kleinen Haufen zusammen, der gleich hinter der Tür zum Stehen gekommen war.

Guten Morgen. Sie sind in Doktor Meyers Gruppe. Fragen jederzeit an sie oder mich.

Dimos sah an der Oberärztin vorbei.

Da lag sie also.

Die Leiche.

Er konnte seine Augen nicht von dem hellblauen Tuch lösen, mit dem der Körper zugedeckt war. Davor stand der Geruch des Formalins, die Hände streng in die Seiten gestützt. Dimos würde keinen Schritt in diesen Raum hineingehen können. Das Zeug würde ihm die Nase wegfressen, und dabei sagte seine Schwester doch immer, die große Nase sei das einzig Attraktive an ihm. Dimos war eitel genug zu wissen, dass Sophia nur Spaß machte. Trotzdem wollte er sie gern behalten. Seine Nase. Die Schwester natürlich auch. Mama sagte immer, er solle doch Schönheitschirurg werden, da ließe sich das meiste Geld machen. Auch das ein Scherz. Seine Mutter war Feministin und meinte, dass jede Frau schön aussehe, so, wie die Natur sie geschaffen hatte. Niemand solle sich unters Messer legen, um sich eine kleinere Nase machen zu lassen. Außer dein Vater vielleicht, sagte sie dann, guck dir mal diesen Zinken an. Dann riss Papa die schwarzen Augen auf und zog eine Grimasse.

Mit einem Mal stand Dimos an einem der Tische, das Tuch war entfernt worden. Ein nackter Körper lag vor ihm, in seltsamen Farben, die er nicht mit einem Menschen in Verbindung gebracht hätte. Grauer Marmor. Mondoberfläche. Er wollte, um nicht umzukippen, nach dem Metalltisch greifen, zog die Hände aber gleich wieder zurück. Das war zu nah.

Eine Hand berührte ihn am Ellbogen, ganz leicht, ganz kurz, dann war sie wieder weg.

Neben ihm stand Maja mit dem Pferdeschwanz, und er tat ihr den Gefallen, sie nicht anzusehen.

***

Zum Glück war sie zwei Stunden später so nett, nicht darauf zu reagieren, dass er im Café erst einmal aufs Klo gerannt war, um sein Frühstück loszuwerden.

Ich hab zwei Kaffee bestellt, sagte sie, als er sich neben sie setzte. Sie musterte ihn. Er hatte im Spiegel gesehen, wie blass er aussah. Aber dann fühlte er, wie sich ein Grinsen auf sein Gesicht schlich, ein fettes Strahlen.

Maja lachte auf.

Sie saßen zusammen im Café und gackerten leicht hysterisch, so glücklich, am Leben zu sein, alles überstanden zu haben, und dann kam der Kaffee, pechschwarz, und sie nahmen beide einen großen Schluck und verzogen das Gesicht, weil sie sonst nie schwarzen Kaffee tranken, aber Milch und Schaum und Zimt und all der Kram wären einfach unangemessen gewesen – und vielleicht auch ein Grund, noch einmal auf die Toilette zu rennen.

Das war geil, oder?, fragte sie schließlich.

Abgesehen davon, dass Florian Last Christmas gesungen hat?

Genau.

Ja, sehr.

Wie in einem gut gemachten Horrorfilm. Nachdenklich sah sie vor sich hin. Man könnte glatt Serienmörderin werden.

Oder Arzt.

Du kommst auf Ideen. Er mochte ihr Lachen genauso wie das Kinn. Die weißen Zähne, die leicht schrägen Katzenaugen. Weißt du schon, in welche Richtung du willst?

Dimos verbrannte sich die Oberlippe am Kaffee und nickte.

Onkologie. Und du?

Herzchirurgie.

Den ersten Schnitt, den er heute geführt hatte, würde Dimos nie mehr vergessen. Allerdings würde er auch sein Leben lang keinen Lebkuchen mehr essen wollen. Und ob er wohl jemals wieder etwas riechen würde?

Herzchirurgie, wiederholte er. Die Königsdisziplin. Warum?

Erzähl mir lieber, warum Onkologie. Aber bitte sag nicht, dass du irgendeinen Verwandten verloren hast und du jetzt …

Dimos biss die Zähne zusammen und blickte auf seine Hände.

Und du jetzt … Oh Gott, tut mir leid, sagte Maja. Das war scheiße von mir.

Dimos hob den Blick und sah ihr in die Augen. Er grinste.

Maja warf sich mit dem Oberkörper gegen die Rückenlehne der Sitzbank.

Blödmann.

Nichts so Persönliches, sagte er. Nur der übliche Gottkomplex und der Gedanke, dass vielleicht ja gerade ich endlich ein Heilmittel finde.

Das wäre schön. Maja hob die Kaffeetasse, prostete ihm zu und stellte sie wieder ab. Und falls du während der Arbeit im Labor einen Bypass brauchst oder so, kommst du zu mir.

Wieso sollte ich im Labor einen Bypass brauchen? Und: Flirtete sie mit ihm?

Tach! Florian ließ sich auf einen Stuhl fallen. Hier seid ihr.

War das nicht krass?, sagte Eva und rutschte neben Maja auf die Bank. War das auch eure erste Leiche?

Maja runzelte die Stirn und rückte ein Stück von Florians Freundin ab. Manchmal waren sie zusammen, manchmal nicht, Dimos blickte da nicht durch und wollte es eigentlich auch gar nicht genauer wissen.

Ich hab meine Oma gesehen, nachdem sie gestorben ist, sagte Florian.

Aber die war nicht erst monatelang lecker eingelegt. Eva winkte der Kellnerin und bestellte einen Latte Macchiato, Florian einen Kakao mit Eierlikör.

Ich würd gern zahlen, sagte Maja.

Es war früher Nachmittag, aber der Tag schien schon wieder genug zu haben und schloss langsam die Fensterläden. Dimos war erschöpft und gleichzeitig aufgedreht. Nach dem fast surrealen Unterricht im Anatomiesaal wirkten die zahllosen Lichterketten, geschmückten Christbäume und tanzenden Weihnachtsmänner in der Heidelberger Altstadt noch mehr wie auf einer Postkarte als sonst.

Gibst du mir deine Telefonnummer?, fragte er, ohne vorher auch nur einen Moment nachzudenken. Vielleicht können wir uns ja die nächsten Tage noch mal sehen?

Maja zog den Reißverschluss der karierten Jacke bis oben zu und steckte die Hände in die Taschen. Ich muss noch was lernen. Über Weihnachten kommt man ja nie dazu.

Fährst du nach Hause?

Ja, zu meinen Eltern in den Norden. Du?

Ruhrgebiet. Zur ganzen großen Angelopoulos-Sippe.

Ach, toll. Ihre Katzenaugen leuchteten auf. Ich bin Einzelkind und habe nur eine blöde Cousine. Na ja, aber wir sehen uns ja dann im neuen Jahr wieder im Unterricht, oder? Haben wir noch andere Kurse zusammen?

Dimos öffnete den Mund, um all die Seminare und Vorlesungen aufzuzählen, in denen sie zusammen saßen, aber ließ es bleiben.

Bestimmt, sagte er.

Sie lächelte. Dann mal schöne Feiertage und so weiter.

Gleichfalls. Und guten Rutsch.

Sie nahm die rechte Hand noch einmal aus der Tasche, winkte ihm zu und drehte sich um. Ihr Pferdeschwanz wippte ihr hinterher, als sie zwischen Lichterketten und Weihnachtsschmuck verschwand.

***

Diese Kurzgeschichte ist ein Prequel zu meinem im März 2019 erscheinenden Roman Moorschwestern, in dem ihr erfahrt, wie Majas und Dimos‘ Beziehung sich weiterentwickelt. Folgt mir auf meiner Facebook-Seite, um in den kommenden Wochen mehr zu erfahren.

Beitragsbild: Uwe Sittig