21. Februar 2024

Das Waldbüchlein des P.C. von Planta

Eisiger Wind stürzt ungehindert den Berg hinunter, pfeift über den braunen Roggenacker und kriecht durch alle Ritzen in die Häuser, in denen bibbernde Menschen sitzen. Obstbäume kann man hier nicht anbauen, selbst die Kartoffeln haben es in der erodierenden Erde mit jedem Jahr schwerer. Im Winter tosen Lawinen die Hänge hinab und begraben alles unter sich.

Das ist das bedrohliche Bild, das Peter Conradin von Planta in seinem Waldbüchlein zeichnet. Ein Bild von einer Landschaft und einem Lebensraum, den wir uns eigentlich nicht andersartiger vorstellen könnten: Er spricht von den grünen Tälern Graubündens.

Denn das Waldbüchlein soll eine Warnung, ein Wort zur Beherzigung ans Bündnervolk sein: Wenn ihr nicht auf eure Wälder aufpasst, dann ist es bald vorbei mit saftigen Wiesen, tragenden Obstbäumen, fruchtbaren Feldern.

Nicht überraschend? Schließlich sprechen doch alle über Umweltschutz und Nachhaltigkeit?

Ja, natürlich, aber das Waldbüchlein wurde bereits 1848 veröffentlicht.

Das Jahr, in dem die Schweiz entsteht

Peter Conradin von Planta lebte von 1815 bis 1902 und war Jurist, Journalist und Politiker. Eine spannende Zeit für einen Schweizer, denn im Jahr 1848 entstand nicht nur das kleine Waldbüchlein, sondern – mit etwas größeren Auswirkungen – auch die moderne Eidgenossenschaft.

Der Kanton Graubünden hatte mehrheitlich für den neuen Bundesstaat gestimmt. Dieser brachte nun viele organisatorische und finanzielle Neuerungen mit sich, zum Beispiel die Abschaffung der Binnenzölle, eine Währungsunion und das Postrecht.

Planta war auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene tätig und an der Überarbeitung des Bündner Zivilgesetzbuchs beteiligt, das ebenfalls an die neue Rechtslage angepasst werden musste.

Das Waldbüchlein, nicht mehr als eine Broschüre, war da ein kleineres Projekt.

Peter Conradin von Planta, im Jahr 1900 porträtiert von Ernst Schweizer (Quelle: Wikipedia)

Graubünden zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Während in der Gesamtschweiz die Bevölkerung wuchs, waren die Zahlen in vielen Bündner Gemeinden um diese Zeit rückläufig: Die Familien waren groß und arm.

(Viele Kinder gingen früh arbeiten, innerhalb der Schweiz oder ins Ausland. Neben dem normalen Handwerk gab es eine besondere Tradition in Graubünden: das Konditoreihandwerk. Bündner Zuckerbäcker:innen waren über ganz Europa verteilt, von Sankt Petersburg über Venedig bis nach Bordeaux. Oft gingen schon 14-Jährige aus den Tälern in die Städte, um bei ihren Verwandten zu lernen. Aber das nur nebenbei.)

Jedenfalls: Mitte des 19. Jahrhunderts war Graubünden arm. Nur Holz gab es genug. Man ging in den Wald und schlug es sich. Man brauchte es zum Kochen, zum Heizen, für Mobiliar, auch zum Täfeln der Wände und Böden, um es warm zu haben. Mit Blättern und Nadeln streute man die Ställe und düngte die Äcker.

Mit diesen Schilderungen beginnt Plantas pädagogisches Waldbüchlein. Natürlich, schreibt er, sollen die Talbewohner:innen die von Gott gegebenen Bergwälder nutzen, um sich trotz der harten Bedingungen ein einigermaßen angenehmes Leben zu gestalten.

Überraschend wissenschaftlich

Aber rücksichtsvoll sollten sie dabei sein. Immer daran denken, dass sie nicht nur für sich selbst wirtschaften, sondern auch für ihre Kinder, gegen die sie sich doch bestimmt nicht „versündigen“ wollten.

Die Wälder mäßigen im Winter die Kälte und mildern im Sommer die versengende Hitze … Die Wälder bilden einen Schuz [sic] gegen die Schneelawinen … Die Wälder schützen vor Erdbrüchen.

Seine Erklärungen klingen überraschend wissenschaftlich, wenn er zum Beispiel beschreibt, dass kahler Stein Wärme und Kälte länger behält als bewachsener Boden. Dass trockene Erde ohne Halt durch Wurzeln erodiert. Dass der Wald Hochwasser verhütet. Bäume die Luft filtern.

Vermutlich sind das keine überraschenden Erkenntnisse für Menschen, die Tag für Tag in der Natur arbeiten und von ihr abhängig sind. Sie werden diese Beobachtungen auch schon gemacht haben, oft verknüpft mit leidvollen Erfahrungen.

The Fall of an Avalanche in the Grisons von William Turner, 1810 (Quelle: Wikipedia)

Aber Plantas Büchlein wirkt in diesen Abschnitten nie von oben herab geschrieben. Er beschreibt die den Empfänger:innen gut bekannten Landschaften detailliert und kenntnisreich. Mit der Anrede „liebe Landleute“ wendet er sich direkt an sie, bringt Verständnis für ihr Verhalten auf. Er erklärt, statt nur zu behaupten. Man kann sich gut vorstellen, dass es für die Bevölkerung hilfreich war, ihr intuitives, selbst gesammeltes Wissen von einer Autoritätsperson bestätigt zu sehen. Und vielleicht auch, diese Informationen so geballt vor sich zu haben, um hier oder da doch noch etwas zu verändern.

Geld und Gier

Nach diesem sanften Einstieg wird Planta strenger. Denn jetzt geht es ums Geld: Die Schweiz mag aus Platzgründen Schwierigkeiten haben, genug Nahrungsmittel für ihre eigene Bevölkerung zu produzieren. Doch ihre Berghänge eignen sich hervorragend, um Holz anzubauen und dies an brennstoffgierige Fabriken in Deutschland und Frankreich zu verkaufen. (Gerade im abgelegenen Graubünden war die Industrialisierung damals noch kaum vorangeschritten.)

Das Problem ist, dass viele dabei zu gierig vorgehen und die Waldwirtschaft nicht so sorgfältig betreiben wie ihre Viehzucht. Laut Planta liegt das daran, dass man ein neues Kälbchen in wenigen Monaten vor sich stehen hat, neu gepflanzte Bäume jedoch erst der nächsten Generation zugute kommen.

Aber, ihr lieben Leute, seid ihr denn Christen oder Heiden, daß ihr so sprecht? … Wollt ihr denn lieber, daß euch die Nachkommen in euer Grab fluchen als daß sie es segnen?

„Was ist zu thun?“

Was also ist zu tun, um die Wälder zu erhalten und sie dabei doch möglichst einträglich zu machen? Im zweiten Teil des Waldbüchleins geht es ans Eingemachte. „Das Sparen ist der Anfang zum Reichwerden“ – vergeudet kein Holz, schlagt es nur nach Beratung mit „Forstkundigen“, besteuert es stärker, baut mit Stein, richtet eure Öfen energiesparender her oder errichtet „Gemeindsbacköfen“, pflanzt neue Bäume, lasst eure Geißen nicht im Unterholz weiden.

Klingt das nicht wie Die sieben ultimativen Tipps für mehr Nachhaltigkeit? (Abgesehen davon, dass gerade Holz heute als besonders zukunftssicheres Baumaterial gilt …)

Und am Schluss folgt sein strenger und gleichzeitig flehender Aufruf:

Aber thut das so lange es noch Zeit ist!

Ein Aufruf, der heute dringender ist denn je.

Moosbewachsener, von schrägen Sonnenstrahlen erleuchteter Waldboden

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Quellen:
P.C. von Planta: Waldbüchlein. Ein Wort zur Beherzigung an’s Bündnervolk. Chur 1848.
Florian Hitz (Hrsg.): Peter Conradin von Planta (1815–1902). Graubünden im 19. Jahrhundert. Chur 2016.