4. April 2017

Frauen im Eis

Im Jahr 1947 konnte man in einer norddeutschen Zeitung lesen, dass in Island Farmarbeiterinnen gesucht wurden. Über zweihundert junge Frauen betraten die Esja – das Schiff, das sie auf die eisige Insel im Norden bringen sollte. Mochten die „Esja-Mädchen“ am Anfang eine Kuriosität gewesen sein, so gerieten sie doch schnell in Vergessenheit. Erst in neuester Zeit scheinen sich wieder Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen und auch Filmemacherinnen mit diesen mittlerweile alten Frauen zu beschäftigen. Denn viele von ihnen kamen nicht nur zum Arbeiten: Mehr als die Hälfte heirateten und blieben für immer.

Der Film Eisheimat von Regisseurin Heike Fink aus dem Jahr 2012 zeigt sechs der Frauen aus nächster Nähe. Für Iceland Review habe ich 2014 eine Rezension geschrieben, als dieser großartige Film während des RIFF aufgeführt wurde.

Gerade bin ich in der Zeitung Fréttatíminn wieder über das Thema gestolpert. Die Anthropologin Nína Rós Ísberg berichtet, wie von diesen jungen Frauen verlangt wurde, dass sie sich schnell in die isländische Gesellschaft integrierten. Als höchste Werte galten Fleiß, Familienzusammenhalt, ein ordentlicher Haushalt und die Kindererziehung. Viele Schwiegereltern bestanden darauf, dass der Nachwuchs isländische Namen bekam und die Mütter mit ihm kein Deutsch sprachen.

Nína Rós weist auf den eklatanten Unterschied zu einer Situation nur wenige Jahre vorher hin: Während des Zweiten Weltkriegs waren zuerst Briten und dann US-Amerikaner in Island stationiert. Isländische Frauen, die mit den Soldaten Umgang pflegten, wurden als Verräterinnen und bestimmt nicht selten als Prostituierte beschimpft. Ihren unehelichen Kindern haftete lange ein Makel an. Doch als sich kurz nach dem Krieg isländische Bauern deutsche Frauen liefern ließen, wurde darüber kaum geredet. Die Frauen waren wohl keine Bedrohung für die Gesellschaft, mutmaßt Nína Rós.

Doch gleichzeitig hatte die Anthropologin bei ihren Gesprächen mit den so rasch „islandisierten“ Frauen nicht das Gefühl, dass diese sich als Opfer betrachteten. Wenn man sich die wunderbaren alten Damen in Eisheimat ansieht, würde man auch nicht auf diesen Gedanken kommen. Die meisten berichten offen und ehrlich, dass sie kein leichtes Leben hatten, aber als willenlose Opfer kann man sie sich wirklich nicht vorstellen.

Nína Rós erklärt, dass die Deutschen damals als arbeitsam galten, was für die Isländer, denen diese Arbeitskraft fehlte, das Wichtigste war. Dass die jungen Frauen besonders schlecht entlohnt wurden, überrascht nicht. Hier zieht Nína Rós eine interessante Parallele zu den vielen jungen Polinnen, die derzeit in Island billige Arbeitskräfte darstellen. Denn auch sie gelten als extrem fleißig und übernehmen Arbeit, mit der sich Isländer und Isländerinnen nicht mehr abgeben wollen.

Und auch wenn man heute offener sein mag als in den 1950er-Jahren, als viele Kinder mit schon längst wieder abgereisten Soldatenvätern auf die Welt kamen, so ist es für Kinder mit einem polnischen Elternteil heute noch immer nicht besonders leicht in der engen isländischen Gesellschaft. Die Kinder der deutschen Frauen hatten zumindest den Vorteil, in einem isländischen Familienverband aufzuwachsen.

Nína Rós hofft jedenfalls auf mehr Offenheit und Toleranz und gerade in Zeiten der Globalisierung, die natürlich und zum Glück auch vor Island nicht Halt macht, auf den Willen, neu zu definieren, was es eigentlich heißt, isländisch zu sein oder zu werden.

Es gibt zu diesem Thema bei Piper auch ein (mir leider noch unbekanntes) interessant klingendes Buch von Anne Siegel: Frauen, Fische, Fjorde – Deutsche Einwanderinnen in Island.