1. April 2024

Henriette d’Angeville – eine Frau auf dem Mont Blanc

Lange nachdem schon viele andere französische Berge bestiegen worden waren, stand der Mont Blanc noch unbesiegt da. Als verflucht und extrem gefährlich galt er. Man hatte Drachen gesichtet und Geister, zumindest aber dramatische Gletscher und steile Flanken, an denen es bereits zu tödlichen Unfällen gekommen war. Die offizielle Erstbesteigung war erst 1786.

Am 4. September 1838 erreichte Comtesse Henriette d’Angeville die höchste Spitze des höchsten Berges der Alpen. Ob sie die erste Frau war, darüber erzähle ich gleich mehr. Erst einmal lauschen wir den Worten John Murrays, des Verfassers eines damals beliebten britischen Reiseführers:

It is a somewhat remarkable fact that a large proportion of those who have made this ascent have been persons of unsound mind.

John Murray: A Handbook for Travellers in Switzerland
Henriette d’Angeville in Bergkleidung, gemalt von Jules Hébert

Wie man an ihrem gräflichen Adelstitel bereits sieht, stammte Comtesse Henriette d’Angeville aus gutem Hause. Eine Frau aus der Arbeiterklasse hätte kaum die Mittel oder die Freiheit fürs Reisen und Bergsteigen gehabt.

Geboren wurde sie im Jahr 1794. In den Wirren der Französischen Revolution wurde ihr Vater eingesperrt, der Großvater guillotiniert. Henriette wuchs auf dem ländlich gelegenen Familienschloss Château de Lune im Département Ain auf und schien früh vom Kletterfieber gepackt. Schon mit zehn Jahren erklomm sie die Gipfel der Umgebung.

Verheiratet war sie offenbar nie. Ein schmales Büchlein über sie trägt den Titel Die Braut des Montblanc. Zuerst hatte ich gehofft, dass es nur der Autor war, der sich diesen furchtbaren Namen ausgedacht hat. Er schrieb auch sonst in Sätzen wie „Die Weite ist aller Geheimnisse voll, und die Nähe dunkelt von Rätseln“. Aber in ihrem Carnet vert, ihrem Notizbuch, das sie mit auf die Klettertour nahm, nannte d’Angeville sich auch selbst so.

Ein Traum in Hosen

Der Mont Blanc war ihr großer Traum, wie sie in ihrem Reisebericht Mon Excursion Au Mont-Blanc schrieb:

Wenn ich den Gipfel des Mont Blanc als Krönung dieser verschneiten Landschaft erblickte, brachte er mich in einen Zustand, den ich heute kaum verstehen oder erklären kann: Mein Herz schlug gewaltig, mein Atem stockte, tiefe Seufzer entrangen sich meiner Brust. Ich spürte ein solch leidenschaftliches Verlangen, ihn zu besteigen, dass sich meine Füße wie von selbst bewegten, und allein der Gedanke, die Besteigung auf nächstes Jahr verlegen zu müssen, verursachte mir fast unbeschreibliche körperliche und seelische Schmerzen.

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Damit dieser Traum wahr werden konnte, bereitete sie sich lange und gründlich vor. Was dabei heute immer besonders betont wird, ist nicht etwa das körperliche Training, sondern ihre Kleidung: Sie entwarf sich eine Kombination aus Pluderhose und tailliertem Mantel. Ja, richtig gelesen: eine Hose.

Wie unanständig und peinlich für eine Frau im 19. Jahrhundert.

Wahrscheinlich hatte sie bei anderen Besteigungen bereits selbst gemerkt, wie gefährlich Röcke am Berg sein konnten. Gerade bei anspruchsvollen Klettertouren würde heute wohl niemand mehr auf die Idee kommen, so etwas auch nur auszuprobieren.

Farblithografie von F. Baumann (Credit: Wellcome Library, London)

Auf diesem Bild sieht man sie mit hochgebundenem Rock bei der Überquerung einer Schlucht. Aber meist ist sie wohl nur brav im Rock losmarschiert, bis sie das letzte Dorf hinter sich gelassen hatte. Mit genug Distanz zur sogenannten Zivilisation konnte sie sich dann eine Hose anziehen.

Die Vorgängerin der d’Angeville

Bergsteigen war lange eine Männerdomäne. Es ging um Mut und Kraft und die Bezwingung der Alpen. Höher, schneller, weiter.

Aber Henriette d’Angeville war tatsächlich nicht die erste Frau auf dem Mont Blanc. Was ihr jedoch wichtig war: Sie war die erste Frau, die den Gipfel aus eigener Kraft erreichte.

Dreißig Jahre zuvor hatte sich bereits eine gewisse Marie Paradis aufgemacht, den legendären Berg zu besteigen. Mehr oder weniger freiwillig. Sie stammte aus der Gegend, und habe ich am Anfang dieses Artikels noch behauptet, dass Frauen aus dem „einfachen Volk“ bestimmt keine Zeit und kein Geld hatten, um in den Alpen herumzuklettern, so muss ich das direkt wieder zurücknehmen.

Denn Marie Paradis konnte weder lesen noch schreiben und arbeitete als Magd in einer Herberge. Man kann sich vorstellen, dass mit Beginn des Alpinismus immer mehr Touristen eine solche Unterkunft benötigten, bevor sie ihre wagemutigen Exkursionen begannen.

(Wobei sich ein echter Bergsteiger, typischerweise aus England und stolzes Mitglied des Alpine Club, natürlich niemals als Tourist bezeichnet hätte. Touristen sind die anderen. Die, die in Knickerbockerhosen in Italien und der Schweiz herumlaufen, oft gar in Gruppen und mit im Voraus geplanten Touren. Good grief.)

Marie Paradis, Maler:in unbekannt

Gezogen, geholfen, geschoben, getragen

Marie Paradis war mit einigen der Bergführer bekannt, die sonst die Fremden auf die Berge begleiteten. Unglaubliche zwölfhundert Gäste kamen schon Jahr für Jahr. Oft gingen die Touren von Chamonix aus. Die Bergführer hatten im Jahr 1808 den Plan geschmiedet, sich selbst und ihre Arbeit mit einer solch außergewöhnlichen Tour noch bekannter zu machen, und vielleicht würde ja Marie auch zu einer Berühmtheit und könnte mit ihrer Geschichte ein wenig Geld machen. Sie ließ sich überreden.

Aber so stark und gut zu Fuß die dreißigjährige Bergbewohnerin auch war – an solche Höhen war sie nicht gewöhnt, und so hatten die Männer sie gezogen, geschoben und getragen, um nicht aufgeben zu müssen. Und genau das veranlasste d’Angeville zu sagen: Die Paradis mag auf dem Gipfel gewesen sein, aber ich war die erste Frau, die es ohne fremde Hilfe geschafft hat.

Eine Taube, drei Pfund Pflaumen

Wie es im 19. Jahrhundert sein musste, eröffnet Henriette d’Angeville ihren Reisebericht mit den üblichen Bescheidenheitsfloskeln, die nicht fehlen dürfen, wenn eine Frau, dazu noch aus der Provinz, ein Buch schreibt: Ihrer Familie und einigen Freund:innen habe sie natürlich gern über ihre Tour berichten wollen. Die seien es dann gewesen, die sie überzeugten, das Büchlein auch zu veröffentlichen. Wissenschaftliche Zwecke verfolge sie damit natürlich nicht, es solle lediglich der Unterhaltung dienen und habe auch kaum literarischen Wert.

Aus den darauffolgenden Seiten spricht dann jedoch ein ordentliches Selbstbewusstsein, wie zum Beispiel hier:

… niemals den Ratschlag von irgendjemandem annehmen … erst recht nicht von einem Mann.

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Aber das gilt nicht für Bergführer. Denn als erfahrene Bergsteigerin weiß Henriette d’Angeville, dass sie sich auf das Wissen und die Erfahrung der Bergführer von Chamonix unbedingt verlassen kann und muss. Sie bittet ihren guide chef Joseph-Marie Couttet, elf weitere passende Männer auszuwählen: fünf Bergführer, sechs Träger. Einige davon stellt sie in ihrem Buch sogar näher vor, erwähnt ihre Familienverhältnisse und welche Touren sie bereits unternommen haben. Sie schließt das Kapitel mit:

Sollte unsere Gruppe von einer Lawine verschüttet werden, würde es mit einem Mal sechs Witwen und siebenundzwanzig Waisen geben!!!!

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Aber sie drängt und zwingt keinen, wie es in anderen Veröffentlichungen oft den Eindruck macht, wo sie gern als verrückt und rücksichtslos beschrieben wird. Zwei der Ausgewählten befinden im letzten Moment doch, dass der frisch gefallene Schnee zu gefährlich sei, und bleiben daheim.

„Die sechs Bergführer, die mich auf den Gipfel des Mont Blanc geführt haben“, aus: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Den Sonntag wartet d’Angeville ungeduldig, aber resigniert ab, denn an einem Sonntag steigt niemand auf den Berg. Sonntags gehört der Berg kurzzeitig wieder dem lieben Gott. Außerdem bringe das Datum Unglück, weil es vor einigen Jahren am 2. September zu einem schweren Unfall mit mehreren Toten gekommen sei.

So nutzt d’Angeville den Tag, ein paar Briefe und ihr Testament zu schreiben. Vierundvierzig war sie übrigens schon. Außerdem stellte sie die Verpflegung zusammen, die aus Folgendem bestand:

  • 2 Schafskeulen
  • 2 Kalbslenden
  • 24 Brathähnchen
  • 6 Brote à 3 bis 4 Pfund
  • 18 Flaschen Saint-Jean-Wein
  • 1 Flasche Cognac
  • 1 Flasche Essig
  • 1 Flasche Orangenblüten-Sirup
  • 12 Zitronen
  • 3 Pfund Zucker
  • 3 Pfund Schokolade
  • 3 Pfund Pflaumen
Ein Aufstieg auf den Mont Blanc im Jahr 1861 (ohne Frauen)

Dazu bekommt sie vom Pfarrer des Ortes den Auftrag, eine Taube aus seinem Taubenschlag mitzunehmen. Aus wissenschaftlichem Interesse: Wie wird das Tier mit der dünner werdenden Luft zurechtkommen? Und wie lang braucht es zurück nach Chamonix?

Die Vorbereitungen bleiben selbstverständlich nicht unbemerkt, und mehrere Menschen, ob sie nun selbst etwas mit dem Bergsteigen zu tun haben oder nicht, warnen sie vor dieser Unternehmung. Zu gefährlich. Nach all dem Neuschnee. Absurd. Nichts für eine Frau. Aber d’Angeville betont, dass sie keineswegs übermütig oder verrückt sei. Sie weiß, was sie will, was sie kann, und ärgert sich, dass (außer von ihren Bergführern) kein einziges Wort der Ermutigung kommt. Warum glaubt niemand, dass zumindest die Möglichkeit eines Erfolgs besteht?

Der erste Tag

Am Morgen des 3. Septembers lässt Comtesse Henriette d’Angeville den Ort Chamonix und all die Zweifelnden zurück. Trotz der frühen Uhrzeit stehen viele Menschen neugierig auf der Straße.

Die Bergführer schienen ruhig; was mich anging, so war ich es ganz und gar nicht; ich fühlte eine innere Freude, die ich kaum für mich behalten konnte; mein Körper fühlte sich leicht an; er war weder hungrig noch durstig, weder warm noch kalt, und verspürte lediglich die Anziehungskraft des Mont Blanc, die so stark war, dass er, wenn ich ihm die Zügel hätte schleifen lassen, den Berg sofort im Laufschritt erobert hätte.

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Ihre Gruppe ist an diesem Morgen jedoch nicht die einzige: Zwei weitere Bergsteiger – ein Herr Eisenkrämer und ein Monsieur Stoppen – machen sich zur selben Stunde auf. Mehrere von Henriettes Männern schlagen vor, die Gruppen zusammenzulegen, sicherer wäre das auf jeden Fall. Aber sie weigert sich. Sie will es allein schaffen. Außerdem sei es unanständig für eine Frau, ganz ohne Begleitung eines männlichen Familienmitglieds so engen Kontakt mit zwei fremden Herren zu haben.

Ihre bezahlten Bergführer zählen in dieser Hinsicht offenbar nicht.

Fast hätten sie die Taube vergessen, aber im letzten Moment wird das Tier doch noch eingepackt. Es ist sechs Uhr früh, d’Angeville umarmt ein letztes Mal ihre weinende Zofe Jeannette, dann geht es los.

Den ersten Teil der Strecke legen sie auf Maultieren zurück. Henriettes eifriger Körper übernimmt offenbar, sie eilt und muss zurückgehalten werden, sie will die Führung übernehmen und sich auf ihr eigenes Können verlassen. Erst als sie den Fuß des Mont Blanc erreichen, überlässt sie die Führung ihren erfahrenen Begleitern und verspricht ihnen, ihren Empfehlungen zu folgen, sich stets an ihre Befehle zu halten.

Übernachtung im Zelt

Tatsächlich darf sie eine Weile allein gehen, bis es trotz ihrer Trittsicherheit zu gefährlich wird und sie sie ans Seil nehmen. Oft gehen zwei oder drei als Kundschafter vor. Zu diesem Zeitpunkt war lange keine Seilschaft mehr auf dem Mont Blanc gewesen, und ohnehin ändert sich die Landschaft mit jedem Winter, jedem Schneefall, jeder Lawine. Henriette d’Angeville hält die Augen weit offen, aber verlässt sich wirklich komplett auf die Männer.

An einer Stelle schreibt sie von sich in der dritten Person:

… bevor wir den Felsen erklettern würden, machten wir einen kleinen, allgemeinen Halt, währenddessen die Dame für den Mut gepriesen wurde, den sie gezeigt hatte. Sich loben zu lassen, entsprach ihrer Art nicht; aber in dieser Situation fiel es ihr besonders schwer, wartete doch eine noch viel schwierigere Prüfung auf sie.

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Am Abend treffen sich die drei Gruppen an den Grands Mulets wieder, der einzigen Stelle an der Nordflanke, an der man zu diesem Zeitpunkt biwakieren kann. (Heute steht dort eine Schutzhütte.) Die Hälfte der Strecke ist geschafft. Sie befinden sich nun auf 3000 Meter Höhe und sind vom Eis des Glacier des Bossons umgeben. Henriette muss sich wärmer anziehen, bittet einige ihrer Männer, sie mit großen Decken abzuschirmen, und fragt, welcher von ihnen der Geschickteste sei, denn sie braucht jemanden, der ihr das Korsett auf dem Rücken zuschnürt. So viel zur praktischen Kleidung!

Die beiden Herren von der Konkurrenz richten sich in der Nähe ein. Henriette beobachtet, wie der junge Eisenkrämer sich kurz nach dem Essen seine Mütze aufsetzt und schlafen geht. Von dem anderen Herrn wird d’Angeville über einen Dritten – Achtung! – eine carte de visite überreicht mit der Frage, ob er sie wohl besuchen dürfe.

Glacier des Bossons, Foto von 1890

D’Angeville stimmt zu, obwohl sie eigentlich lieber mit ihren Aufzeichnungen allein wäre. Monsieur Karol Stoppen macht ihr also seine Aufwartung, sie unterhalten sich eine Weile und verabschieden sich für die Nacht. Sie verliert in ihren Aufzeichnungen kein böses Wort über die Männer, aber man meint gerade wegen dieser Neutralität zwischen den Zeilen herauszulesen, dass sie sie im Grunde zur Hölle wünscht. Sie will ihren Mont Blanc für sich.

Wildere Schrecken, brutale Einsamkeit

Im eingangs erwähnten Reiseführer von John Murray wird der Mont Blanc an mehreren Stellen erwähnt:

There cannot be a more lovely sight than that of Mont Blanc, and the surrounding Aiguilles, tinged with the pink hue which the departing sun sheds upon them in certain states of the atmosphere.

When [Mont Blanc’s] prodigious mass opens to the view, the effect is overwhelming.

The great object of the excursion is … to penetrate into [Mont Blanc’s] profound valley, and witness scenes of wilder horrors and more savage solitude.

John Murray: A Handbook for Travelers in Switzerland

Wildere Schrecken. Brutale Einsamkeit. Jahrhunderte lang waren die Alpengipfel kein Sehnsuchtsort sportlicher Herren, ihre grünen Täler keine bevorzugten Kur- und Ferienorte reicher Reisender. Niemand sah sie als erhaben und beeindruckend. Sie waren bedrohlich und wild und beherbergten grauenvolle Gestalten. Das schwingt im Murray noch mit: ein wenig Grusel, den nur die Tapfersten überwinden. Und auch d’Angeville selbst schreibt immer wieder von einer seltsamen Gleichzeitigkeit von Schönheit und Wildheit.

Von der Fauna geht im ewigen Eis jedoch nur wenig Gefahr aus: Sie erspähen ein Weißschwanz-Schneehuhn („wenn ich nur mein Gewehr dabei hätte!“, ruft ein Bergführer) und später eine weiße Maus („fünf Franken für den, der sie mir bringt, tot oder lebendig!“, ruft Henriette). Beide entkommen. Von Gämsen haben sie nur die Spuren gesehen, denen man vertrauensvoll folgen kann.

Vor dem Schlafengehen betrachtet d’Angeville noch einmal die Landschaft, die im Dunkeln komplett anders wirkt als am Tag und nichts mehr mit der ihr bekannten Erde zu tun zu haben scheint. Der Dreiviertelmond steht am sternenklaren Himmel, es geht kein Wind, „kein einziges Geräusch in dieser Wüste“. Sie bittet die Bergführer, eines ihrer traditionellen Lieder zu singen. Die machen sich erst ein wenig über sie lustig: Meine sie dieses Trinklied oder jenes? Aber dann erklingen ihre Stimmen doch über die weite Landschaft, und die anderen beiden Gruppen stimmen ein.

Auf zum Gipfel

Nach all dem kann sie vor Aufregung nicht schlafen. Aber am nächsten Morgen geht es schon gegen zwei Uhr früh weiter. Couttet rät d’Angeville, die beiden Männergruppen vorgehen zu lassen. Sie beweise doch schon genug damit, dass sie als Frau auf den Mont Blanc steige, da muss sie doch nicht auch noch die erste des Tages sein. Es sei auch einfacher, einem bereits betretenen Weg zu folgen. Da sie ihm ja versprochen hat, seinen Rat stets anzunehmen, erklärt sie sich einverstanden.

Sie betet zum letzten Mal dafür, dass ihre tapferen Begleiter alle heil wieder nach unten zu ihren Familien kommen.

Aber erst einmal geht es steil nach oben.

Es wird kalt. Das Licht brennt in den Augen. Sie muss auf jeden Schritt achten, um nicht zu stolpern, wird von ihren Begleitern ermahnt. Je höher sie kommen, desto schlechter geht es ihr. Einigen der Bergführer auch, die aber keinesfalls aufgeben wollen, trotz Migräne oder Übelkeit. Bei Henriette sind es vor allem Herzrasen und Müdigkeit, ausgelöst durch die Höhe und die schlaflose Nacht. Bald schafft sie nur noch fünf, sechs Schritte, bevor sie sich für ein oder zwei Minuten ausruhen muss. Bald schläft sie während dieser ein oder zwei Minuten Ruhezeit ein, erst im Sitzen, dann sogar im Stehen.

„Falls ich sterbe, bevor wir den Gipfel erreichen, versprechen Sie mir, meinen Körper hochzutragen und ihn dort liegen zu lassen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Mademoiselle. Sie kommen hin, tot oder lebendig.“

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Beim Lesen weiß man nicht, in welchem Ton die Antwort geäußert wurde. Bislang haben die Männer sie stets unterstützt und respektiert. Aber wenig später, sie muss immer öfter Pause machen, immer stärker gegen ihr Bedürfnis ankämpfen, aufzugeben, murmelt Couttet: „Jetzt geht’s schief! … Jetzt geht’s schief … Nie wieder bringe ich eine Dame auf den Mont Blanc.“

Zwei der Männer bieten ihr an, sie zu tragen.

Für sie klingt das wie eine Drohung.

Nein!

Sie rafft alles an Willenskraft zusammen, was sie noch hat. Sie will es allein schaffen. Sie muss es allein schaffen. Sie will nicht gezerrt und gezogen werden wie Marie Paradis.

Dieses Mal ließ man mir fünf Minuten Erholung; als ich wieder aufstand, löste ich das sinnlos gewordene Seil und stieß sogar meine Stöcke weg, um ganz allein und ohne irgendeine fremde Hilfe die drei Schritte zu gehen, die mich noch vom Sieg trennten. Um ein Uhr und fünfundzwanzig Minuten setzte ich schließlich meinen Fuß auf den Gipfel des Mont Blanc und stieß meinen eisenbeschlagenen Stock in seine Kruppe, wie ein Soldat auf der Zitadelle sein Banner hisst, nachdem er sie im Sturm erobert hat.

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Die Gräfin auf dem Gipfel: Wollen ist können

Endlich, endlich hat sie es geschafft. Sie steht auf dem höchsten Gipfel Europas und hat ihn ganz allein erklommen. (Bezwungen. Diese Kriegs- und Kampfmetaphern müssen offensichtlich sein.)

Nichts um sie herum als ein blau changierender Himmel, und die Sonne scheint auf das immense Panorama. Alle Müdigkeit ist wie weggeblasen. Es ist wie eine Auferstehung.

Nachdem sie eine Weile geschaut hat, überlässt sie den Gipfel ihren Begleitern und setzt sich zum Schreiben einiger kurzer Briefe an Familie und Freund:innen hin. Die sie selbstverständlich wieder mit nach unten tragen muss, weil noch keine Postfiliale auf dem Mont Blanc eröffnet wurde.

Apropos Brief, da ist ja noch die Taube! D’Angeville gibt ihr ein letztes Mal etwas zu essen, hängt ihr ein Zettelchen mit Gruß ans Bein und lässt sie fliegen. Sie rechnen damit, dass es nicht lang dauern wird, bis die Taube Chamonix erreicht und der Pfarrer ein weißes Tuch vom Kirchturm hängen wird, das sie vom Gipfel aus sehen sollen.

Doch leider, leider, schreibt Henriette d’Angeville in einer Fußnote, habe das arme Tier nie mehr heimgefunden. Es wurde zweimal in nahe gelegenen Dörfern gesehen, ohne sich fangen zu lassen. Und zwei Monate später (was sie anhand der Federnzeichnung bestätigen konnten) wurde es kross gebraten von einem jungen, hungrigen Hirten verspeist.

Aber zurück auf den Gipfel. Nach dem Briefeschreiben folgt ein weiterer Pflichtpunkt: Sie lässt sich von Couttet das Panorama benennen, jede Bergkette, jeden Gipfel, jedes Tal und jede erkennbare Ortschaft.

(Leider finde ich kein Bild des guten Couttet, deshalb muss sein Kollege herhalten, der nicht einmal mit d’Angeville, sondern bereits früher mit dem Genfer Forscher Saussure unterwegs war.)

Danach sagt er: „Jetzt, da Sie alles gesehen haben, was man vom Gipfel des Mont Blanc aus sehen kann, müssen Sie noch höher gehen.“

„Gibt es etwa einen Weg, der von hier zum Mond führt?“, fragt sie verwundert.

„Sie werden schon sehen.“

Er verschränkte seine Hände mit denen von Desplan und lud mich ein, mich auf diesem improvisierten Sitz niederzulassen; ich tat, wie mir geheißen, und ahnte bereits, was er vorhatte. Und so hoben die zwei Gebirgler mich vom verschneiten Boden so hoch, wie es ihnen möglich war; und so … war ich höher gekommen als all meine Vorgänger.

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

In der Murray-Ausgabe von 1851 wird übrigens erzählt, sie sei so ehrgeizig und unmöglich gewesen, dass sie die Bergführer dazu gezwungen hätte, sie auf die Schultern zu nehmen. Mit zwei Ausrufezeichen.

Nach einer Stunde machen sie sich für Rückweg bereit. Denn einigen der Bergführer geht es inzwischen aufgrund der Höhe extrem schlecht – Migräne, blaue oder blutige Lippen, geplatzte Äderchen in den Augen. Als Henriette d’Angeville selbst schnell in den mitgebrachten Spiegel schaut, erkennt sie, dass sie ebenfalls wie ein „wahres Monster“ aussieht.

Bevor sie sich für immer verabschiedet, schreibt sie ihr liebstes Motto in den Schnee: Vouloir, c’est pouvoir. Wollen ist können.

Zurück nach Chamonix – die gefeierte Heldin

Den ersten Teil des Weges können sie en ramasse zurücklegen. Sprich: Sie rutschen zu zweit oder dritt, mit gut verschränkten Armen und Beinen, auf dem Hosenboden den Hang hinunter.

Als sie wenig später noch einmal zum Gipfel hinaufschauen, tobt dort ein Unwetter. Alle sind sich sicher, dass sie nie mehr im Leben dort rauf wollen, Henriette denkt aber schon an die nächsten Berge, die sie noch nicht erklettert hat. Über die Grands Mulets kehren sie ins Tal zurück – hoch sind sie elfeinhalb Stunden gelaufen, nach unten brauchen sie keine vier. Von ihren beiden Konkurrenten schreibt sie so gut wie gar nichts mehr, seit sie den Gipfel erreicht hat. Sie scheinen völlig unwichtig.

Der Mont Blanc zeigt ihnen als letzten Gruß noch einen spektakulären Lawinenabgang in sicherer Entfernung. Dann lässt die Gruppe das ewige Eis hinter sich, trifft bald auf ihre wartenden Maultiere, wird wenig später von den ersten Begeisterten begleitet. (Offenbar hat das ganze Dorf ihren Fortschritt mit Ferngläsern verfolgt und rund um die Uhr gebetet, dass ihnen nichts zustößt.) Auch d’Angevilles Dienstmädchen Jeannette, die beim Abschied so schrecklich geweint hatte, ist dabei und rührt Henriettes Herz.

Die Dame des Mont Blanc, die Heldin des Mont Blanc, die Königin des Mont Blanc – mit diesen neuen Namen wird Henriette d’Angeville nun gefeiert.

Ein Wandgemälde zu d’Angevilles Ehren in Annecy

Zurück in Chamonix fängt es in Strömen zu regnen an. Die nächsten Tage verbringt sie damit, Besucher:innen zu empfangen und von ihren Erlebnissen zu erzählen. Auch Reporter verschiedenster Zeitungen sind dabei.

Körperlich geht es ihr gut, sie ist nur sehr sonnenverbrannt und hat Schwierigkeiten mit den Augen, die sie mit gebleichtem (?) Wasser mit bleihaltigem (??) Saturnextrakt behandelt …

Was ihre ebenfalls stolzen, glücklichen Bergführer angeht, so veranstaltet d’Angeville zum Dank ein Bankett. Sie lobt sie über den grünen Klee (sowohl am Tisch als auch den Leser:innen gegenüber) und schreibt ihnen glühende Referenzen in ihre Tourenbücher. Sie selbst wiederum erhält eine Urkunde der Stadt, die ihr den Aufstieg offiziell bestätigt. Auch geprägte Silbermünzen werden verteilt.

Wer übrigens mit am Tisch sitzt: Marie Paradis! D’Angeville hat sie ohnehin zum Essen eingeladen, aber die 60-jährige schrullige Frau hat die müde Bergsteigerin schon früh am Morgen aus dem Bett gerissen. Wollte mit eigenen Augen die Dame sehen, die es auf den Mont Blanc geschafft hat. Dreißig Jahre nach ihrem eigenen Aufstieg. Henriette fragt ihre „Schwester des Mont Blanc“ aus, aber Marie erinnert sich nur noch an die Schrecken und ihre Erschöpfung – ziemlich prosaisch, findet Henriette, die sich schließlich gerade ihren großen Traum erfüllt hat.

Meine Exkursion. Mein Erfolg.

Henriette d’Angeville verewigt dieses Gespräch und ihre ganzen außergewöhnlichen Erfahrungen also in einem Manuskript. Ich bin mir nicht ganz sicher, was die Veröffentlichungsgeschichte angeht: Sie schreibt selbst, dass sie noch überlegt habe, ob sie sich Zeit lassen und alles verarbeiten oder gleich nach ihrem Abenteuer im Jahr 1839 veröffentlichen solle – und habe sich für Letzteres entschieden.

An anderer Stelle finde ich jedoch den Hinweis, es sei (zumindest bis 1900) nie publiziert worden, weil die Familie es zurückgehalten habe. Deshalb seien auch etwa vierzig Zeichnungen und Aquarelle verloren gegangen, die die Autorin bei Künstlern in Auftrag gegeben haben soll. Im Jahr 1987 wurde es dann vom französischen Verlag Arthaud als Mon Excursion Au Mont-Blanc ediert und mit einem Vorwort des aus Chamonix stammenden Schriftstellers, Journalisten und Alpin-Abenteurers Roger Frison-Roche versehen.

Die Nordwand des Mont Blanc, die Henriette d’Angeville erklommen hat. Bild: Eric Courcier.

Ich mag den Titel. Meine Exkursion. Mein Erfolg. Mein Buch. Es ist spannend und lebendig geschrieben. Immer wieder denkt man sich, dass sie sich mit ihren Gefühlen zurückhält, um nicht in den Verdacht zu geraten, sie lasse sich als Frau zu sehr von ihnen steuern. Aber einige Gedanken sind deshalb umso interessanter: Dass sie sich ärgert, als sie vor Beginn der Tour von niemandem Zuspruch bekommt, alle nur das Gefährliche, Unmögliche betonen. Natürlich ist das einerseits beleidigend, andererseits aber auch nicht gut für die eigene positive Einstellung. Als sie heldenhaft zurückkehrt, verhalten sich plötzlich alle so anders.

Wenn mich eine Lawine in eine der Klüfte des Mont Blanc geschleudert hätte …, wäre mein Mut, diese Gefahren zu bestehen, doch derselbe gewesen; und doch, was für ein Unterschied! Diejenigen, die mich in diesen Augenblicken so wortstark lobten, hätten mir keine einzige Träne hinterhergeweint, und ihre Meinung hätte sich in einem Satz zusammenfassen lassen: „Diese Verrückte hat einen hohen Preis dafür gezahlt, dass sie in aller Munde sein wollte!“

Dieser Gedanke schwebte über meiner triumphalen Rückkehr, wurde zu einer Wolke … und war doch gleichzeitig ein hervorragendes Korrektiv gegen die kleinen Verlockungen des Hochmuts.

Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc

Als sie beschreibt, dass es ihr auf dem Gipfel und Rückweg viel besser ging als den Bergführern, betont sie, dass sie damit keinesfalls werten will. Was man ihr ohnehin nicht unterstellt, nachdem sie sich doch selbst so den Berg hinaufgequält hat. Aber sie sagt, sie wolle keine „Scharlatanerei der Tapferkeit“ betreiben, denn eine mehr oder weniger gute körperliche Verfassung sei kein Verdienst. Im Gegensatz zum Mut, mit dem man eine schlechte Verfassung überwinden könne.

Eine der ersten, aber bei Weitem nicht die einzige

Es dauerte nur noch wenige Jahrzehnte, bis der Alpinismus seine volle Blüte erreichte und sich zahllose Engländer und Deutsche genauso ehrgeizig wie d’Angeville auf die Berge quälten. Doch es waren auch immer wieder Frauen dabei, deren Namen und Taten bekannt, teilweise vergessen und später wieder neu „entdeckt“ wurden. Meta Breevort gehört dazu, Lucy Walker, Katherine Richardson, Elizabeth Main, Jane Freshfield. Von einigen werde ich später noch hier oder im Podcast erzählen.

Und es gibt auch Informationen über den ersten Hund, genauer die erste Hündin, die den Gipfel des Mont Blanc ohne fremde Hilfe erreicht hat. Das war Tschingel. Freundlicherweise wurde Tschingel 1875 gleich in den Alpine Club aufgenommen, obwohl der eigentlich nur Männern offenstand. Menschliche Frauen durften erst ab 1974 beitreten.

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Quellen:
Henriette d’Angeville: Mon Excursion Au Mont-Blanc. Arthaud 1987. Die Übersetzungen stammen von mir.
Joseph Corcelle: Mlle Henriette d’Angeville: une ascension célèbre au Mont-Blanc (1838). Impr. du „Courrier de l’Ain“ (Bourg) 1900.
Oskar Erich Meyer: Die Braut des Montblanc. Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1937.
John Murray (Hrsg.): A Handbook for Travellers in Switzerland, And the Alps of Savoy and Piedmont. John Murray 1851.
Tanja Wirz: Gipfelstürmerinnen. Eine Geschlechtergeschichte des Alpinismus in der Schweiz 1840–1940. Hier+Jetzt-Verlag 2007.
Wikipedia-Artikel zu Henriette d’Angeville und Marie Paradis

Leseempfehlungen:
Rachel Hewitt: In Her Nature. Vintage 2024.
Helen Mort: A Line Above the Sky. Penguin 2022.
Sally Zigmond: Chasing Angels, Lume Books 2019.