4. Oktober 2017

Knusperknusper

Es war einmal eine alte Frau, die lebte in einem Haus aus Pfefferkuchen, tief im dunklen Wald. Dorthin war sie gekommen, nachdem die Leute im Dorf angefangen hatten, sie Hexe zu rufen, Hexe, und so hatte sie eines Tages ihre Sachen packen und sich in einer schwarzen Nacht davonschleichen müssen.

Über Stock und Stein, den linken Fuß hab ich mir verstaucht, das rechte Knie verdreht, dazu dicke, fette Blasen. Alles schwarz, dunkelschwarz, hellschwarz, schwarzschwarz, die schwarze Hand hab ich nicht vor den schwarzen Augen gesehen. Hexe, wär ich eine Hexe, hätt ich mir doch wenigstens Licht gezaubert, oder nicht?

Nach einem langen Marsch fand die Frau das Häuschen, das ihr wie eine sichere Bleibe schien, weit weg von den Menschen, die ihr Übles wollten. Doch mit seinem Kuchenduft lockte es hungrige Tiere an.

Brösliges Ding, das war schon voller Löcher, als ich es gefunden hab, all die Viecher, Eichhörnchen vor allem, eine Plage, die würd ich am liebsten an ihrem Flauschschwanz durch die Gegend schleudern, hui und weg, dummes Viehzeug frisst mir Löcher übern Kopf, Hexe, wär ich eine Hexe, hätt ich mir doch ein Holzhaus gezaubert oder gleich eins aus Stein, oder nicht? Das blöde Lebkuchending stand schon da. Weiß nicht, wer vorher drin war, aber ich nehm an, sie hatten nix gegen Eichhörnchen.

Die alte Frau rollte ihre Decke aus und legte sich schlafen. Alle Glieder schmerzten, und ihr Rücken schien noch ein Stück krummer geworden. Bevor sie geflohen war, hatte sich die Stimmung im Dorf so beängstigend schnell geändert, dass sie es nicht mehr wiedererkannte.

Meine Eltern sind damals hingezogen, als meine Mutter mit mir schwanger war. Die haben sie nett aufgenommen, hallo, willkommen, und als Kind war es da wirklich schön. Hab mit den anderen gespielt, bergauf, bergab, hü-hott, Seil springen, verstecken, im Bach plantschen, Kinder, ertrinkt nicht, das war alles, was die Erwachsenen gesagt haben, bevor wir losmachten, Kinder ertrinkt nicht, kann man sich heut nicht mehr vorstellen, oder? Wir waren auch immer dreckig, Dreck gefressen haben wir, Regenwürmer als Mutprobe, und uns drin gewälzt, im Dreck, hat keinen gestört, hat man sich im Bach eben wieder saubergemacht. Nur einmal, da ist wirklich einer ertrunken.

Eines Tages war beim Spielen am Ufer ein vierjähriger Junge gestolpert und mit dem Kopf auf einen Stein aufgeschlagen. Die anderen Kinder bekamen nicht mit, dass der Kleine nicht mehr aufstand und mit dem Gesicht im Wasser lag.

Gestolpert, nicht gestolpert, paar haben gesagt, ich hätt ihn gestoßen, geschubst, nur weil ich die einzige in seiner Nähe war. Wie hätt ich mich denn bitte schön so schnell wegdrehen sollen, dass ich nicht gesehen hätt, wie der da auf den Stein geknallt ist. Ich war ein kleines Kind, kein Monster. Aber die haben mich schon so komisch angeguckt. Hexe, wär ich eine Hexe, hätt ich den Jungen doch nicht gestoßen, oder? Hätte mir doch was anderes ausgedacht, weiß ja nicht, irgendwas, was Hexen halt so machen.

Die junge Frau wuchs heran und wurde erwachsen und sehr schön und träumte davon, Ärztin zu sein. Doch plötzlich starb ihr Vater und ließ die Familie fast mittellos zurück.

Da wars vorbei mit den großen Träumen, studieren, in die Stadt ziehen, Essig wars damit. Musste bei meiner Mutter bleiben und Geld verdienen. Meine Mutter konnte ja nix, hat immer nur Wäsche gewaschen und Wäsche geflickt und Wäsche gestopft und Wäsche gebügelt, ganz verrückt ist die danach gewesen, wischiwaschi Wäsche. Aber sonst konnte sie halt nix. Ich bin dann beim alten Apotheker in die Lehre gegangen. Der ist auch bisschen verrückt gewesen.

Niemand wusste, wie alt der alte Apotheker war. Er schien schon immer im Dorf gelebt und die Einwohner mit Medizin versorgt zu haben. Sie vertrauten ihm mit seinem weißen Bart und der runden Nickelbrille, die er sich mit Bindfaden hinter den Ohren befestigte.

Hat immer vor sich hingemurmelt und hatte ein geheimes Labor, in das er mich zuerst nicht reingelassen hat. Hab immer nur vorn im Laden verkauft. Dass er da hinten rumhockte, hat ihn nur noch mysteriöser gemacht für alle. Die haben ihn fast zum Heiligen ernannt. Mumpitz des Jahrhunderts.

Der alte Apotheker war wie so viele Männer zu allen Zeiten dem Wunsch verfallen, Gold herzustellen. Er tauschte sich in Geheimschrift mit anderen Alchimisten aus und braute wunderliche Essenzen. Doch seine junge Gehilfin lehrte er tatsächlich nützliche Dinge, wie sie Cremes, Tinkturen und Sude aus Kräutern herstellen konnte und welche Wickel aus welchen Pflanzen bei welchen Krankheiten halfen.

Der hat mich zu so nem Kräuterweibchen gemacht, ich bin immer mit so ner Kiepe durch die Wälder gerannt und hab Zeug gepflückt. Er war bisschen verrückt, aber er hat auch viel gewusst. Und ich war gut, muss ich sagen. Bald hab ich alles selber gemacht, hatte auch eigene Rezepte, wirksamere sogar, während der dahinten erfolglos rumgepusselt hat. Will ja nix sagen, aber Männer haben schon immer irgendwie einen an der Klatsche, oder?

Ein Jahr folgte dem nächsten. Der Apotheker wurde nicht älter, aber aus der jungen Frau wurde eine mittelalte. Ihre Mutter wurde krank, und weder der Apotheker noch die Tochter wussten ihr zu helfen. Den Arzt aus der Stadt konnten sie sich, wie die anderen, nicht leisten, sodass die Mutter nach vielen qualvollen Monaten starb. Und obgleich alle aus dem Dorf ihr Beileid aussprachen, kam kaum jemand zur Beerdigung.

Als ob die alle was Besseres vorhatten. Haare schneiden wahrscheinlich, die Scheune aufräumen. Fast vierzig Jahre, vierzig, hat meine Mutter da gelebt und war immer nett zu allen. Hat immer allen die Wäsche geflickt, flickflickflick, den ganzen Tag hat sie da gehockt.

Kurz darauf kam der Winter ins Dorf, und es fiel so viel Schnee wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Tage schienen so kurz und so düster wie nie. Ein heulender Sturm folgte dem nächsten, ein Baum stürzte um und fiel auf ein Haus, das in Flammen aufging. Eine Lawine riss drei Familien weg, ein Kind hustete sich die Seele aus dem Hals und das Leben gleich mit. Als das Unwetter zum Erliegen kam, zählte das Dorf die verbliebenen Häupter und fand, dass der Apotheker fehlte.

Da gings los. Viele waren verletzt oder komplett tiefgefroren, nur noch am Bibbern. Oder sie hatten schon seit Tagen ihre Pillen nicht nehmen können. Aber mich haben sie nur noch schräg angeguckt. Ich mein, haben die gedacht, ich hätt den Apotheker abgemurkst und verscharrt? Wie hätt ich durch den tiefen Schnee graben, wie hätt ich den zähen Kerl erledigen sollen? Außerdem hatte ich gar nix gegen ihn, konnte er ja nix für, dass er meine Mutter nicht retten konnte. Ich habs ja auch nicht gekonnt. Hexe, wär ich eine Hexe, hätt ich sie da nicht gerettet?

Das Dorf mied seine neue Apothekerin. Ihre Arbeit mit all den Kräutern, Pilzen und Pflanzen, die sie im Wald fand, war ihm schon immer irgendwie suspekt gewesen. Manchmal murmelte sie beim Zubereiten ihrer Salben sogar vor sich hin, waren das etwa magische Sprüche?

Und warum ist eigentlich der Vater so früh gestorben? Und jetzt die Mutter, an einer so hässlichen Krankheit? Und wo ist der unsterbliche Alte? So hab ichs munkeln und furunkeln gehört. Habs zischeln gehört, flüsterflüster, pscht, sie kommt. Guten Morgen. Zuerst waren sie noch so vorsichtig freundlich, als wie wenn sie Angst hätten. Vor mir. Aber dann hieß es irgendwann flüsterflüster, pscht, sie kommt, die Hexe. Dann haben sie angefangen, irgendwelche dämlichen Symbole an die Wände zu malen und Amulette zu tragen. Als ob son Schwachsinn wirken würde. Hexe, wär ich eine Hexe, hätte ich die dann nicht alle zum Teufel gehext? Hätte das Dorf leergehext statt klamm und heimlich mitten in der Nacht abzuhauen. Hab richtig Angst gehabt, kann ich nicht anders sagen.

Dort im Wald verging die Zeit. Die Frau wurde älter, ihre Schönheit schwand, haarfeine Falten der Einsamkeit ließen ihr Gesicht einfallen. Sie zählte nicht die Jahre, sie zählte Monde und Winterstürme. Sie aß die Pflanzen und machte sich daraus Medizin, wenn sie krank wurde.

Krank werd ich aber selten, vielleicht so wie bei meiner Mutter, erst immer gesund, dann zack Krebs, der frisst mich auf, und weg bin ich. Schlimmer ist der Hunger, ich werd nie satt von diesem Pflanzenkram, bin ja kein Kaninchen. Und Lebkuchen kann ich nicht ausstehn, krieg ich erst Sodbrennen von und dann die Scheißerei. Habs oft genug ausprobiert. Ich vermiss Fleisch, zartes Fleisch im Ofen geröstet, leckerlecker, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Bin aber zu alt, um Tiere zu jagen, und für meine Fallen sind sie alle zu schlau. Fast alle. Grad hab ich zwei gefangen, zart und scheu, junge Häschen. Könnte sie noch bisschen mästen, dass sie bisschen Speck ansetzen, der brutzelt schön und riecht so gut. Aber Hunger hab ich auch ganz ordentlich, kein Wunder nach der ganzen Zeit, seit sie mich verjagt haben, Hexe, Hexe, haben sie ganz offen auf der Straße gesagt, was sollte ich da machen. Musste hier durchkommen. Und wenn ich jetzt bisschen verschroben Hunger auf junge Häschen hab, ich mein, ich bin eine alte Frau, hatte ein hartes Leben, bin eine Hexe, haha, da wird man sich doch wohl was gönnen dürfen. Der Ofen ist jedenfalls schon angeheizt, wir haben ordentlich Reisig gesammelt. Ich geh gleich mal nachgucken, ob er schon heiß genug ist. Hab ein paar Kräuter da und Wacholderbeeren. So lässt es sich doch wieder ein Weilchen leben.