Negrito
Negrito war sein Name, er war schwarz wie die Nacht.
Er war kein freundlicher Kater, interessierte sich nicht für Stoffmäuschen, Streicheleinheiten oder gar andere Katzen. Hunde und Hühner verabscheute er.
Selbst mich konnte er nicht immer ertragen.
Die vernarbten Kratzer auf meinen Händen sprechen Bände.
Doch er kam jeden Abend nach Hause.
Dann gab ich ihm zu essen und erzählte ihm dabei, wie ich ihn als winziges Bündel aus Knochen und struppigem Fell gefunden und aufgepäppelt hatte. Es lag wohl eine Aufforderung in meinen Geschichten: Ich habe dich gerettet, Negrito, kannst du mir nicht wenigstens ein bisschen Zuneigung entgegenbringen? Er ignorierte sie.
Aber wie es oft so ist: Unser Herz hängen wir besonders an die schwierigsten Seelen. Dass das bei Menschen keine gute Idee ist, wusste ich mit vierzig Jahren längst. Menschen verschwinden und verletzen.
Negrito kam zumindest jeden Abend nach Hause.
Außer an diesem Septemberabend. Ich blieb lange wach, sah immer wieder hinaus ins Dunkle, öffnete die Terrassentür, lauschte, rief seinen Namen. Ich hörte die Igel schnaufen und das Käuzchen rufen, aber von Negrito keine Spur. Schließlich schlief ich auf dem Sofa ein, unruhig, und wachte auf, als es dämmerte.
Bevor ich zur Arbeit fuhr, bat ich meine Mutter, die einige Häuser weiter die Straße hinauf wohnt, über den Tag immer mal wieder nach dem Kater zu schauen. Er würde zwar nicht ins Haus kommen, wenn sie da war, aber sie könnte ihm Futter auf die Terrasse stellen und schauen, ob es ihm gut ging.
Er tauchte nicht wieder auf. Die Nachbarinnen hatten ihn auch nicht gesehen, wunderten sich sogar, dass es einen solchen schwarzen Kater im Dorf geben sollte. So unauffällig, unsichtbar verhielt Negrito sich im Freien. Er hatte auch kein Halsband, das hätte er nicht ertragen. Ich telefonierte mit meiner Schwester, die meinte, Kater hätten nun einmal einen Freiheitsdrang, dem sie manchmal einfach folgen mussten. Geduld, Schwesterlein, sagte sie, Geduld.
Dem unruhigen Abend folgte eine weitere Nacht auf dem Sofa, in der ich vor Sorge ins Kissen weinte.
Am frühen Morgen klopfte es an der Tür. Eine der Nachbarinnen stand da, den Blick abgewandt. Eine andere Nachbarin habe ihr gesagt, weiter unten, da wo nur noch wenige Häuser stehen, läge eine schwarze Katze am Straßenrand. Tot, offensichtlich.
Ich konnte mich nicht mehr bewegen.
Wollen Sie denn nicht …, begann die Nachbarin.
Das half mir, mich aus der Schreckstarre zu befreien. Ich warf ihr die Tür vor der Nase zu, zog mich in Windeseile an, ganz egal, Hose, Pulli, Gummistiefel, und rannte los. Je näher ich der Stelle kam, die sie beschrieben hatte, desto schneller wurde ich auf dem abschüssigen Gelände.
Und da sah ich ihn auch schon. Ich schickte ein Stoßgebet in den leeren Himmel.
Mit schnellem Atem, aber langsamen Schritten ging ich auf das kleine Bündel zu, Knochen und Fell, das da am Straßenrand lag, halb unter dem Herbstlaub verborgen. Ich kniete mich hin. Ohne Zweifel. Es war mein Negrito. Mein kleines, pechschwarzes Bündel mit gelben Augen. Sein Fauchen und seine Hiebe waren in den letzten Jahren mein Alltag gewesen.
Ich musste wiederholt blinzeln, damit die Tränen mir nicht die Augen verschleierten. Vorsichtig strich ihm über das viel zu kühle Köpfchen. Am Hals sah ich das verklebte Fell, in dem das Blut getrocknet war.
Negrito, sagte ich, Negrito, aber er war tot.
Ich schluchzte, nahm ihn vorsichtig hoch und trug ihn nach Hause. Er war so leicht wie die nebelgeschwängerte Luft um uns herum. Diese verdammten Autos, die zum Dorfausgang hin schon beschleunigten und Katzen genauso erwischten wie Dachse, Rehe, Hasen. Ich weinte vor Trauer und Wut und Hilflosigkeit.
Meine Mutter hatte schon von der Nachbarin gehört, was geschehen war, und kam mir mit einem alten, weichen Kopfkissenbezug entgegen, in den wir Negrito einwickelten. Ich rief meine Chefin an, dass ich später kommen würde. Mein Vater brachte einen Spaten, wir legten Negrito in ein Loch unter dem alten Haselnussstrauch im Garten meiner Eltern. Ich konnte nicht zusehen, wie mein Vater die Erde zurück auf den kleinen Katerkörper schaufelte und ging auf die Suche nach den letzten Herbstblumen, um sie ihm auf das Grab zu legen.
Meine Eltern nahmen mich in die Arme, unsere Atemwolken vermengten sich und lösten sich auf. Du hast ihm ein schönes Leben gemacht, deinem Negrito, sagte meine Mutter.
Meine Hände und Ärmel waren von seinem Blut rot verschmiert. Ich wusch mich mit eiskaltem Wasser, spritzte mir etwas davon ins geschwollene Gesicht, zog mich um, fuhr zur Arbeit und ließ mich von meinen Routinen trösten. Am Abend wirkte meine Wohnung so verlassen wie noch nie. Ich hatte keinen Appetit und legte mich mit meiner Bettdecke auf die Couch, zu müde, um zuvor die Vorhänge zu schließen.
Ich weinte um mein Katerchen, als ich mit einem Mal das typische Rappeln der Katzenklappe hörte. Zuerst reagierte ich gar nicht, war es doch ein Geräusch, dass zu dieser Wohnung dazu gehörte wie das Rauschen der Heizungsrohre und das Summen des Kühlschranks.
Mit einem Satz sprang Negrito auf den Couchtisch.
Mit einem ebenso großen Satz und einem Aufschrei sprang ich auf.
Er stürzte sich vom Tisch in die hinterste Ecke des Zimmers und fauchte mich an, die Nackenhaare aufgestellt, die weißen Zähne funkelnd im Halbdunkeln.
Negrito! Negrito!
Ich hatte ihn begraben! Wie war er wieder hier? Mein Vater hatte Erde auf ihn gehäuft, ich hatte die Blumen auf seinem Grab abgelegt! Meine Hände zitterten, ich musste sie zu Fäusten ballen.
Er konnte nicht hier sein! Halluzinierte ich, weil ich ihn so vermisste?
Eine Weile standen wir da. Sobald er sich bewegte, zuckte ich zurück. Sobald ich mich bewegte, fauchte er erneut und machte sich so groß wie nur möglich.
Schließlich entschloss ich mich, nach meinem Handy auf dem Tisch zu greifen. Er schoss durch das Wohnzimmer in die andere Ecke. Möglichst weit weg von mir.
Und mich durchfuhr der Gedanke, dass ich darum ganz froh war: Ich wollte dieses vom Tode auferstandene schwarze Tier nicht hier haben. Es konnte nicht mein Negrito sein.
Ich rief meine Mutter an und bat sie, im Garten schauen zu gehen, ob das Grab geöffnet, ob es leer war. Sie erklärte mich für verrückt, doch ich bettelte und weinte so lange, bis sie im Stockdunkeln mit der Taschenlampe nach draußen ging. Sie schaltete die Kamera ein, um mir zu zeigen, dass das Grab mit den Blumen genauso da lag, wie wir es verlassen hatten.
Die ganze Zeit ließ ich den Kater nicht aus den Augen.
Es musste Negrito sein. Ich bekam nie Besuch von anderen Katzen, denn sie alle wussten, wer hier lebte. Es musste Negrito sein.
Aber genauso sicher war ich mir heute Morgen gewesen, dass ich Negrito tot vom Straßenrand aufgelesen hatte.
Langsam ließ ich mich wieder aufs Sofa sinken.
Negrito blieb in seiner Ecke, beruhigte sich aber auch langsam. Seine Mundwinkel zuckten noch, als wolle er mir zeigen, dass er sofort wieder in Angriffshaltung gehen könnte, wenn ich mich bewegte.
Ich hatte einen anderen toten Kater beerdigt. Nicht meinen Gefährten.
Mit gekreuzten Beinen ließ ich mich auf den Boden gleiten.
Komm her, Negrito, sagte ich leise in dem Singsang, den er kannte, komm her, mein Kleiner. Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Komm ruhig her, mein Kleiner. Es war ein anderer Kater heute früh, das war ein anderer Kater. Und es tut mir sehr leid um ihn. Seine Menschen werden nach ihm suchen. Ich werde mich umhören, ob jemand seinen Kater vermisst, in Ordnung? Wir werden uns umhören und herausfinden, wessen Tier es war, in Ordnung? Er ist bestimmt vom Auto angefahren worden, wie immer diese Autos, die zu schnell fahren, nicht wahr? Ich bin so froh, dass es dir gut geht, Negrito.
Ich weiß nicht, wie lang es dauerte, bis Negrito zu mir kam. Aber er kam. Er kam und setzte sich vor mich auf den Teppich. Ich streckte die Hand aus, doch er schlug danach. Dabei wollte ich ihn so gern berühren, mich vergewissern, dass er wirklich wieder da war.
Langsam begann er sich zu putzen. Die Zunge fuhr systematisch über das Fell, er drehte das Köpfchen und hob das Pfötchen. Sein Fell schien nass zu sein, noch dunkler als sonst. Wo hast du dich rumgetrieben, Negrito, fragte ich ihn. Soll ich einen weichen Waschlappen holen?
Doch ich wollte nicht aufstehen, damit er nicht wieder davonstürzte.
Schließlich durfte ich ihn doch am Kopf berühren. Er stieß seine Stirn gegen meine Hand, scheuerte dagegen, schubbelte sich am Ärmel meines hellen Pullis. Dann setzte er sich wieder und schleckte sich den Rücken.
Meine Hand und mein Ärmel waren rot verschmiert.
Bestürzt betrachtete ich ihn, doch es war nirgendwo eine Wunde zu sehen. Es war nicht sein Blut.
Vorsichtig stand ich auf. Seelenruhig blieb er sitzen und putzte sich weiter.
Ich ging in die Küche, um ihm sein Abendessen zu machen.
Morgen musste ich unbedingt herausfinden, wessen Kater ich beerdigt hatte.