15. Mai 2024

Mark Twain auf Schweiz-Reise

Sommer 1878. Mark Twain macht sich auf den Weg nach Europa und schreibt darüber in A Tramp Abroad oder Bummel durch Europa. Wie immer bei Twain schwirrt einem der Kopf, wenn er im Plauderton die absurdesten Geschichten erzählt.

Von Gämsen und anderen Tierchen

Die Gämse zum Beispiel sei keine scheue Bergziege, sondern ein kleines Tierchen, nicht größer als ein Senfkorn. Sie springe und klettere einem unter den Klamotten herum und sei besonders in den Betten der Herbergen und Hotels zu finden, in denen Twain und sein Kumpel Harris sich nachts zur Ruhe betten.

A great deal of romantic nonsense has been written about the Swiss chamois and the perils of hunting it, whereas the truth is that even women and children hunt it, and fearlessly; indeed, everybody hunts it … The article of commerce called chamois-skin is another fraud; nobody could skin a chamois, it is too small. The creature is a humbug in every way, and everything which has been written about it is sentimental exaggeration.

O ja, der Alpentourismus hat in den 1870ern schon fast seinen Höhepunkt erreicht. Und die Flöhe und Bettwanzen haben ihre blutige Freude daran. Mit solchen Unannehmlichkeiten muss man sich genauso abfinden wie mit den anderen Tourist:innen.

Auch Twain lästert bereits über die vielen Menschen, eine Plage für sich. Hauptsächlich sind es Engländer:innen, Deutsche – und Amerikaner:innen wie er selbst, die Schlimmsten von allen. Man erkenne bereits am Äußeren und am Verhalten, wer woher kommt und wie auftreten wird.

Nicht anders als heute, oder? Und eigentlich keine schlechte Sache, denkt man sich, denn so kann man sich bei drohender Kontaktaufnahme noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Doch Twain wäre nicht Twain, wenn er nicht die absurdesten Gespräche suchen und genießen würde.

Souvenirs, Souvenirs

Die Tourismusindustrie hat sich bis heute offenbar kaum geändert: Auch damals schon verkaufen die Einheimischen den Reisenden Alpenstöcke, die sie begeistert mit eingebrannten Gravuren und Plaketten individualisieren.

Evidently, it is not considered safe to go about in Switzerland, even in town, without an alpenstock. If the tourist forgets and comes down to breakfast without his alpenstock he goes back and gets it, and stands it up in the corner.


Abbildung
aus der Originalausgabe von „A Tramp Abroad“

Kuckucksuhren gibt es ebenfalls zu erstehen. Twain überlegt, eine für seinen ärgsten Feind – einen Literaturkritiker – mitzunehmen, entscheidet sich dann aber großherzig doch dagegen.

Das Herz muss auch immer wieder nein sagen, wenn sie auf Wanderungen oder Kutschfahrten Kinder antreffen, die den Reisenden entlang der Wege etwas zu trinken oder zu essen anbieten.

So we tried to eat all the grapes and apricots and berries, and buy all the bouquest of wild flowers which the little peasant boys and girls offered for sale; but we had to retire from this contract, for it was too heavy. … However, there were plenty of [carriages], loaded with dusty tourists and piled high with luggage.

Ob diese hübschen, sauberen Kinder ihm lästig sind oder leid tun? Was er wirklich empfindet, das muss man stets zwischen den Zeilen lesen.

Reiseführer

Genauso interessant ist seine Einstellung zu Reiseführern – sowohl den menschlichen als auch denen in Buchform. Die menschlichen machen ihr Auskommen, indem sie überall etwas draufschlagen. Aber natürlich seien auch hilfreich, wenn man sich Umstände ersparen will – oder aber, wie Twain, absichtlich in all diesen Umständen schwelgen, ähnlich wie in den schrecklichen Gesprächen mit anderen Tourist:innen.

I said that the trouble, delay, and inconvenience of traveling with a courier were balanced by the deep respect which a courier’s presence commands, and I must insist that as much style be thrown into my journeys as possible.

Die Reiseführer in Buchform sind genauso ein Statussymbol wie die Alpenstöcke. Zum roten Murray, der lange in England am bekanntesten war, ist inzwischen der ebenfalls rote Baedeker gekommen. Den kennen wir ja heute noch! Er wird bereits zu Hause ausführlich gelesen und dient nicht nur als Vorbereitung, sondern gewissermaßen auch als Stellvertreter für das, was man wirklich sieht.

So stehen an Aussichtspunkten und auf den Straßen der Städte die Menschen mit ihren Büchern und blättern darin, statt sich umzuschauen. Ganz so, wie wir mit unseren Telefonen heute erst einmal ein Foto machen. Oder dem Navi folgen, obwohl da nun wirklich keine Straße ist …

Okay, diese englischen Tourist:innen sind nicht in der Schweiz unterwegs, sondern in der italienischen Campagna. Aber Carl Spitzweg hat sie (um 1845) so wunderbar eingefangen, dass sie Mark Twain bestimmt auch gefallen haben/hätten.

Beim Ausblick von der Rigi (dazu gleich mehr) beschreibt Twain in aller Ausführlichkeit die kleine Welt unten im Tal. Ausnahmsweise ohne Ironie. Winzige Kirchtürme, Wälder, Seen wie Pfützen. Und ergänzt dann:

This beautiful miniature world had exactly the appearance of those „relief maps“ which reproduce nature precisely, with the heights and depressions and other details graduated to a reduced scale, and with the rocks, trees, lakes, etc., colored after nature.

Wenn man also erst Reiseführer und Panoramakarten kennt, sieht die Natur wie eine Panoramakarte aus – nicht die Panoramakarte wie die Natur, nach der sie gestaltet wurde.

In die Höhe

Schließlich wird Twain neugierig und will auch einmal auf einen dieser Berge steigen. Zuerst entscheiden er und Harris sich für die Rigi, ein Bergmassiv in der Zentralschweiz am Vierwaldstättersee. Laut Baedeker brauche man für den Aufstieg auf einen der Gipfel nur eine Dreiviertelstunde. Sie freuen sich schon auf das Hotel dort oben, weil sie am nächsten Morgen den vielgepriesenen Sonnenaufgang sehen wollen.

Doch in Twain-Manier werden aus der Dreiviertelstunde drei Tage und Nächte. Stundenlang irren sie im Matsch und Nebel umher. Sie müssen im Freien schlafen, vierzig weitere Gipfel erklimmen und in strömendem Regen und Eiseskälte aufpassen, dass sie nicht in die bodenlose Leere einer Schlucht fallen.

Endlich erreichen sie das Hotel. Praktisch halbtot und ausgehungert. (Wenn man ihm denn glauben kann. Also: nicht.)

Supper warmed us, and we went immediately to bed—but first, as Mr. Baedeker requests all tourists to call his attention to any errors which they may find in his guide-books, I dropped him a line to inform him he missed it by just about three days. … I will add, here, that I never got any answers to those letters or any thanks from either of those sources; and, what is still more discourteous, these corrections have not been made, either in the maps or the guide-books.

Aber gut – sie wollen sich den Sonnenaufgang ansehen. Wenn das nur nicht so schwierig wäre: Sie wachen viel zu spät auf und erleben stattdessen den Sonnenuntergang. Am nächsten Tag wachen sie gerade noch rechtzeitig auf, sind aber so müde, dass sie im Schlafanzug nach draußen stolpern und sich vor den gut gekleideten Damen und Herren in Grund und Boden schämen.

„Ich werde den Riffelberg besteigen“

Doch all das kann Mark Twain nicht davon abhalten, zum richtigen Alpinisten zu werden. Er will auch einer von denen sein, die das Verlangen verspüren, jedes Jahr in die Berge zurückzukehren:

… a longing which is like homesickness; a grieving, haunting yearning which will plead, implore, and persecute till it has its will. I met dozens of people … who had come from far countries and roamed through the Swiss Alps year after year—they could not explain why … they had tried to break their chains and stay away, but it was futile; now, they had no desire to break them.

Sein nächstes Ziel: der Riffelberg. Als er seinem Freund seinen Entschluss mitteilt, fällt der vor Schreck fast vom Stuhl und braucht eine Weile, um genug Mut aufzubringen, Twain zu begleiten. Ein Himmelfahrtskommando!

Was ein echter Chronist und Bergsteiger ist, führt in seinen Memoiren auch stets die genaue Ausrüstung auf. Das soll Nachahmenden helfen, für eigene Touren zu planen. Henriette d’Angeville hat es ja auch so gemacht. (1)

Aber Mark Twain hat nicht nur Hühnerschenkel und Cognac dabei, sondern unter anderem auch einen Latinisten, drei Feldprediger und 27 Fässer Opiumtinktur. Letztere kommen ihm zugute, als seine Mannschaft sich über die schwierige Tour beklagt und dass sie sich bestimmt verirrt hätten. Unser großer Held hätte die Nacht über gern einfach ein bisschen Ruhe – und verabreicht den meuternden Männern ein wenig Opium. Einer der Feldprediger geht fast drauf, aber deshalb hat Twain ja drei mitgenommen. Bisschen Schwund ist immer.

Abbildung aus der Originalausgabe von „A Tramp Abroad“

Ein hungriges Maultier

Wissenschaftlich begleitet er seinen eigenen Aufstieg mit Thermo- und Barometer und kommt auf völlig unwissenschaftliche Schlüsse. Ein Scout verabschiedet sich und ersetzt sich selbst durch einen Ziegenbock, der die Gruppe in völlig falsche Gefilde lockt. Es müssen ganze Bäume mit einem Eispickel gefällt werden, um eine Brücke über eine Schlucht zu bauen. Dann frisst auch noch eines der Maultiere das mitgeführte Dynamit … das Ergebnis kann man sich denken. Aber ein Krater in der Schweizer Alpenlandschaft ist zumindest etwas Außergewöhnliches.

Doch wie sollte es anders sein: Als sie ihr Ziel erreicht haben und glücklich wieder in Zermatt sind, schaut Twain noch einmal in den Reiseführer: Der Riffelberg sei innerhalb von drei Stunden zu ersteigen? In Wahrheit hat es doch wieder etliche Tage gedauert und war so gefährlich! Die Höhenangaben über dem Meeresspiegel sei jedoch gar nicht schlecht – mit seinem Barometer hat Twain herausgefunden, dass der Baedeker sich nur um 180 000 bis 190 000 Fuß geirrt habe. Also um 55 bis 58 Kilometer. (2)

Und zu guter Letzt: der Mont Blanc

Den höchsten Berg der Alpen besteigt Mark Twain mit dem Fernrohr. Harris weigert sich auch dieses Mal, aber letztendlich wandern sie gemeinsam vom Fenster ihrer gemütlichen Pension aus – durch das Fernglas – mit einer Seilschaft bis zu den Grands Mulets und über den Glacier des Bossons bis hinauf auf den Gipfel des Mont Blanc. Eine Meisterleistung, die ihresgleichen sucht.

What a view was spread out below! … in the north rose the giant form of the Wobblehorn … to the right, stretched the grand processional summits of the Cisalpine Cordillera … the colossal masses of the Yodelhorn, the Fuddlehorn, and the Dinnerhorn … the Ghauts of the Jubbelpore and the Aiguilles des Allegheniese; in the south towered the smoking peak of Popocatepetl and the unapproachable altitudes of the peerless Scrabblehorn …

Eine Panoramakarte ist leider nicht dabei. Die müsste abenteuerlich aussehen. Worüber er sich hier lustig macht, ist die Tradition, vom Gipfel des bestiegenen Berges aus die umliegenden Gipfel zu benennen, als bewiese man dadurch, auch wirklich oben gewesen zu sein. Und mit jeder Erzählung am englischen oder amerikanischen Kamin, so Twain, wird das Erlebte größer und größer.

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Vom Lesen all dieser Abenteuer tun mir jetzt die Füße weh und die Knie von den langen Abstiegen. Meine Stirn ist sonnenverbrannt, ein Zahn ist mir ausgefallen vom harten Dörrfleisch, von dem wir uns tagelang ernähren mussten.

Mark Twain reist schließlich weiter nach Italien, um dort sein Unwesen zu treiben. Zum Abschluss aber noch eine seiner Beobachtungen, die mir besonders gut gefallen hat:

It was … in the shadow of the majestic Alps, that we came across some little children amusing themselves … They were roped together with a string, they had mimic alpenstocks and ice-axes, and were climbing a meek and lowly manure-pile with a most blood-curdling amount of care and caution. The „guide“ at the head of the line cut imaginary steps, in a laborious and painstaking way … If we had waited, we should have witnessed an imaginary accident, no doubt; and we should have heard the intrepid band hurrah when they made the summit and looked around the „magnificent view“, and seen them throw themselves down in exhausted attitudes for a rest in that commanding situation.

Die nächste Generation der Bergführer:innen und Bergsteiger:innen steht also schon in den Startlöchern.

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Warum ich über Bergsteigerinnen wie Henriette d’Angeville und Mark Twain in der Schweiz schreibe? Weil ich mich für einen Roman in den Schweizer Alpen herumgetrieben und dort so viele wunderbare Geschichten gefunden habe, die ich hier mit euch teilen möchte. Hotel in den Wolken erscheint unter meinem Pseudonym Mara Konrad im Oktober 2024.

Buchcover des Romans "Hotel in den Wolken" von Mara Konrad. Er zeigt die Veranda eines Hotels mit Ausblick auf nebelverhangene Berge und eine herbstliche Waldlandschaft

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Fußnoten:

(1) Henriette d’Angeville erwähnt Mark Twain übrigens auch:

The first woman who ascended Mont Blanc was a girl aged twenty-two—Mlle. Maria Paradis—1809. Nobody was with her but her sweetheart, and he was not a guide. The sex then took a rest for about thirty years, when a Mlle. d’Angeville made the ascent—1838. In Chamonix I picked up a rude old lithograph of that day which pictured her „in the act.“

However, I value it less as a work of art than as a fashion-plate. Miss d’Angeville put on a pair of men’s pantaloons to climb it, which was wise; but she cramped their utility by adding her petticoat, which was idiotic.

Was davon der Wahrheit entspricht, könnt ihr in diesem Artikel nachlesen.

(2) Ein ganz ähnliches Abenteuer erlebt übrigens auch eine Expedition im Himalaya im Buch Die Besteigung des Rum Doodle von William E. Bowman.

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Quelle:
Die englische Originalversion A Tramp Abroad und die deutsche Übersetzung Ein Bummel durch Europa gibt es in zahlreichen Editionen neu und gebraucht zu kaufen.

Vier verschiedene Buchcover zu "Bummel durch Europa" von Mark Twain